Das Gewicht der Liebe
sie es überall tun.«
Aus dem Wald ertönte Chowders Gebell. Johnny blickte in die Richtung des Geräusches, wirkte plötzlich verärgert.
»Du solltest deinen Hund mal lieber rufen. Ihn anleinen, bevor sich noch jemand beschwert.«
»Segeln würde sie aufbauen, ihr Kraft geben.«
»Sie braucht keine Kraft, sie braucht dich. Du hältst sie im Gleichgewicht, Roxanne, du bist die Balance, die sie braucht.«
»Johnny, das ist nicht fair!«
Er sagte: »Wenn du nicht arbeiten würdest oder viel leicht nur Teilzeit …«
Sie ging zurück in Richtung des Cottages, bot ihre ganze Selbstbeherrschung auf, um nicht zu rennen. Nass vom Kriechen durch das Unterholz kam Chowder aus dem Wald geflitzt und lief in Kreisen um sie herum. Vor ihr war Merell auf dem Fahrrad und probierte, freihändig zu fahren. Roxanne bekam nicht genügend Sauerstoff in die Lungen. Nach einem Moment blieb sie auf der Straße stehen und krümmte sich nach vorn. Johnnys Hand berührte ihre Schulter.
»Tu mir das nicht an«, sagte sie. »Komm mir nicht mit so etwas.«
»Ich weiß nicht mehr, was los ist«, sagte er und umarm te sie. Obwohl sie sich am liebsten von ihm losgerissen hätte, obwohl sie ihn in diesem Moment verabscheute, war sie dankbar für seine Arme, die sie umschlangen und festhielten. »Ich weiß nur, was ich nicht tun kann. Und dieser Therapiekram …«
»Das ist keine Magie oder Hexerei. Ein Therapeut ist jemand, mit dem man reden kann, eine neutrale dritte Partei.«
»Du bist auch jemand, Rox. Warum nicht du?«
»Ich habe ein Leben, Johnny. Ich habe einen Ehemann, und wir wollen Kinder haben, bevor ich zu alt bin. Ich habe einen Beruf, den ich mag. Ich kann nicht für den Rest meines Lebens Simones Kindermädchen sein.«
»Aber es wäre ja nicht für den Rest deines Lebens. Nur für eine Weile, bis sie diese schwere Zeit überwunden hat.«
»Und wie lange wird das dauern? Bis du deinen Sohn hast? Das kann Jahre dauern, es wird womöglich nie passieren. In der Zwischenzeit tickt meine biologische Uhr. Hörst du es, Johnny? Tick-tack, tick-tack: Sie sagt mir, dass ich bald vierzig sein werde. Ich habe nicht mehr viel Zeit.«
Er fiel ihr ins Wort. »Du irrst dich, wenn du behauptest, ein Therapeut sei neutral. Wer immer es ist, besser gesagt, wer immer sie ist – meist sind es Frauen, das weiß ich, es ist so ein Frauending –, sie wird Simones Partei ergreifen und einen Keil zwischen uns treiben. Weißt du, worüber sie reden werden? Über mich.«
Ein Therapeut würde Simone vielleicht dazu ermutigen, sich gegen ihn aufzulehnen, sich zu weigern, noch mehr Kinder zu bekommen. Natürlich hatte er davor Angst.
»Simone und ich reden ebenfalls über dich, Johnny. Wo ist da der Unterschied?«
»Ich möchte nicht, dass man sie gegen mich aufwiegelt.«
»Herrgott, Johnny, ich bin auch nicht unparteiisch. Wenn ich Simone beibringen könnte, sich dir zu widersetzen, dann würde ich es tun.«
Nur war es dafür womöglich schon zu spät.
8
D ie Familie kehrte am Montag nach San Diego zurück. Am Tag darauf stand Simone um neun Uhr morgens auf, trank sechs Glas Wasser, zog eine weite Bluse und einen Rock mit Gummibund an und fuhr mit dem Taxi zur Praxis ihres Geburtshelfers. Merell, Olivia und die Zwillinge überließ sie Frannys Obhut.
Nachdem sie zwanzig Minuten im Wartezimmer gesessen und versucht hatte, nicht an ihre volle Blase zu denken, wurde sie in ein Untersuchungszimmer geführt und aufgefordert, sich hinzulegen. Eine Schwester in einem OP -Anzug mit aufgedruckten Disney-Figuren bat sie, ihren Rock hinunterzuziehen, und trug auf Simones entblößten Bauch ein durchsichtiges Gel auf, warnte sie jedoch vorher, es könne etwas kalt werden. Sie leierte ihre Hinweise mechanisch herunter, und Simone wusste immer schon im Voraus, was die Frau sagen würde. Sie wärmte den Schallkopf zwischen ihren Handflächen, ehe sie ihn auf Simones Bauch legte. Erneut warnte sie, es könne kalt werden. Nachdem sie einen Moment gelauscht hatte, grinste sie und sagte: »Ein guter, kräftiger Herzschlag. Ich werde den Arzt holen.«
Simone war seit ihrer ersten Schwangerschaft beim selben Geburtshelfer. Dr. Wayne war Anfang sechzig, ein weißhaariger Mann mit warmen rosa Händen und einem geradezu beängstigenden Selbstvertrauen, das, wie Simone annahm, daher rührte, dass er so vielen Kindern auf die Welt verholfen hatte. Er behandelte sie, als würde er sie durch und durch kennen, was sie beruhigend fand, obwohl sie überzeugt war, dass
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