Das Gewicht der Liebe
das Baby abzunehmen.
»Nein!«
Als Simone ruckartig zurückwich, rutschte ihr Olivia aus den Armen und fiel hinunter. Die Zwillinge kreisch ten, und Roxanne sank neben Olivia auf die Knie, die, stumm vor Schreck, rücklings auf dem Boden lag.
»Scheiße«, sagte Johnny.
»Böser Daddy!« Victoria begann zu weinen.
Roxanne führte eine rasche Untersuchung durch. »Sie ist okay. Nur erschrocken.« Franny nahm das Baby an sich.
Johnny sagte: »Geh nach oben, Simone. Sofort.«
Von Frannys Schulter aus sah Olivia, im Moment mehr neugierig als unglücklich, ihre Familie mit großen, feuchten Augen an.
»Sie hasst mich.«
Johnny streckte die Hand nach Simone aus, doch sie zuckte zurück, als wäre seine Hand elektrisch geladen.
»Ihr hasst mich alle.«
Sie begann zu wimmern, ein halbmenschlicher Laut, der anschwoll und dünner wurde und in quälende Schluch zer zersplitterte. Roxanne wusste, sie sollte irgendetwas tun, um ihrer Schwester zu helfen, aber wie der Rest der Familie stand sie unter dem Bann der Szene, die sich vor ihr abspielte, und wartete darauf, was als Nächstes geschehen würde.
»Also gut, dann hasst ihr mich eben.« Simones Augen waren groß und schwarz. »Je mehr, desto scheißbesser! Ihr könnt mich nicht mehr hassen als ich mich selbst.«
Am späten Sonntagnachmittag begann die dicke Wolken decke aufzureißen, enthüllte Pfützen und Teiche und schließ lich Ozeane aus blauem Himmel und dann – endlich – die Sonne.
Daddy sagte zu Roxanne: »Lass uns einen Spaziergang machen. Ich will zu dem Kramladen unten an der Straße gehen. Nimm Chowder mit. Es wird uns guttun, unsere eingerosteten Glieder mal wieder zu bewegen.«
»Darf ich auch mit?«, fragte Merell. »Ich könnte euch auf meinem Fahrrad begleiten.« Das Mountainbike war schwarz mit einem silbernen Streifen, und nirgendwo konnte sie so gut damit fahren wie hier am See.
»Lass sie nur«, sagte Roxanne und legte die Hand auf Johnnys Arm. »Sie braucht auch eine kleine Abwechslung.«
Im Sonnenlicht wirkte der Wald verzaubert wie in einem Märchen. Jedes Blatt und jede Nadel, die Bäume, Sträucher und selbst der Mulch auf dem Waldboden funkelten, als wäre, nur Sekunden bevor Merell auf ihrem Fahrrad vorbeifuhr, ein Zauberer vorbeigegangen und hätte alles mit Goldstaub und Diamantsplittern besprenkelt. Ihr gefiel die Vorstellung, und sie wünschte sich, es gäbe tatsächlich solche Wesen wie Zauberer, die einen Bann aussprechen und Wünsche bewilligen konnten.
Chowder tollte vor ihr her, schoss in den Wald hinein und wieder auf die Straße zurück, sah sich alle paar Sekunden mit freudig wedelndem Schwanz nach seinen Menschen um. Merell genoss den nassen Erdgeruch des Waldes und die Ruhe, die nur durch Chowders Geflitze und das Geräusch des Wassers unterbrochen wurde, das an jeder Schlucht, jedem Abhang und jeder Furche hinunterrann. Wasser nach einem Gewitter war wie Lachen. Merell kniff die Augen zusammen und stellte sich vor, wie der Wald von ausgelassenen Elfen und Feen, nicht größer als ihre Hand, bevölkert war. Sie wünschte sich einen Zau berer herbei, der Mommy glücklich machte, sauste dann jauchzend durch eine tiefe Pfütze und wirbelte einen sichelförmigen Hahnenschwanz aus Wasser empor, der Chowder von Kopf bis Schwanz vollspritzte. Er blieb einen Moment stehen und bellte begeistert.
Sie fuhr auf der Straße die meiste Zeit vor ihrem Vater und ihrer Tante her, fiel gelegentlich hinter ihnen zurück, wenn sie über einen Privatweg einen Abstecher zu einem der Häuser machte, die bereits für den Winter mit Brettern vernagelt waren. Keines der Häuser war so hübsch wie das Cottage, manche sahen sogar schäbig und verwahrlost aus. Chowder drehte fast durch, witterte Mäuse unter jeder Veranda und jeder Terrasse. Ein rotes Plastikspielzeug im Unkraut, vergessen und am Ende der Sommersaison nicht länger von Nutzen, wies darauf hin, dass Kinder ihre Ferien hier verbracht hatten. Die Angelrute, die an einer Wand des Schuppens lehnte, gehörte vermutlich einem Mann. Merell stieg vom Fahrrad ab und spähte durch ein Fenster in einen Raum voller Kisten und in Laken gehüllter Möbel. Sie stellte sich vor, das Fenster würde ihr einen Blick in die Zukunft eröffnen und sie sähe das winterfest verschlossene Cottage vor sich, vor dem vergessenes Spielzeug und eine Angelausrüstung herumlagen.
Sie fragte sich, ob auch andere Menschen zwei Dinge zur gleichen Zeit fühlen konnten, so wie es ihr gerade ging: glücklich,
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