Das Gewicht der Liebe
Papierkorb neben seinen Beinen heftete.
Er holte es heraus und musterte es mit zusammen gekniffenen Augen. Als könnte er dem vor ihm liegenden Beweis nicht glauben, hielt er das Foto näher an sein Gesicht. »Du warst beim Arzt? Ohne mir davon zu er zählen?«
Simone verschränkte die Hände im Rücken und nahm eine gerade Haltung an, zog die Schultern so hoch, dass sie beinahe ihre Ohren berührten.
»Es ist ein Mädchen, richtig?« Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Johnny enttäuscht, dann lachte er. »Ich glaube, du weißt einfach nicht, wie man einen Jungen macht, Simone.«
»Das Spermium bestimmt das Geschlecht des Kindes«, sagte Roxanne. »Sie hat damit nichts zu tun.«
»Ach was! Wirklich?«
»Das war schon immer so.«
»Dann bin ich also wie mein Dad, was?« Diese Neuigkeit schien ihn zu freuen. »Er hat sieben Mädchen gebraucht, um mich zu bekommen. Vier haben wir bereits, und nach diesem hier« – er tippte auf das Ultraschallbild – »haben wir nur noch zwei vor uns. Richtig? Acht ist die magische Zahl.«
Roxannes Hals schnürte sich zusammen, als würde sie die schlimmste Erkältung bekommen, die sie je gehabt hatte.
Simone brachte die Stille zum Einsturz, stolpernd brach te sie die Worte hervor, die sie so dringend loswerden wollte. »Ich will im Moment kein neues Baby. Ich habe mich zu einer Abtreibung entschlossen.«
Das Wort stand mitten im Raum.
Roxanne beobachtete Johnny, sah, wie das Wort bei ihm ankam, und wartete. Ihr Nacken spannte sich in Erwartung seines Wutausbruchs an. Die Sprenkelanlage klickte von einer Seite zur anderen.
Er legte die Hände auf Simones Schultern und drehte sie zu dem silbergerahmten Spiegel zwischen den Bücherregalen um. Sie zuckte unter dem Druck seiner Finger zusammen.
»Was siehst du?«, fragte er.
Roxannes Nacken schmerzte vor Anspannung.
»Antworte mir.«
»Ich sehe mich, Johnny.« Simone sprach mit ihrer Klein mädchenstimme, die Stimme, die so gut umwerben und betteln und schmeicheln konnte. »Und dich sehe ich auch. Ich sehe uns.«
»Was siehst du, Rox?«
»Hör auf, Johnny.«
»Weißt du, was ich sehe? Ich sehe eine Mörderin.«
Simones Gesicht zuckte. Roxanne machte einen Schritt auf Johnny zu.
»Lass sie in Ruhe.«
»Ich sehe eine Babymörderin.«
»Du Mistkerl!« Roxanne schlug ihm so fest ins Gesicht, dass sie den Schlag bis in die Schulter hinauf vibrieren fühl te. Für einen hauchdünnen, rasiermesserfunkelnden Bruch teil einer Sekunde glaubte sie, er werde zurückschlagen.
Simone ging dazwischen.
»Das hat er nur so dahergesagt. Er sagt oft Sachen, die er gar nicht so meint. Es tut dir leid, Rox. Ich weiß, dass es dir leidtut. Du wolltest ihn nicht schlagen.«
»Bist du taub, Simone? Hast du gehört, wie er dich genannt hat?« War der Klang seiner Stimme überhaupt zu ihr durchgedrungen?
»Das sind nur Worte, mehr nicht. Mir sind Worte egal.« Simone wedelte zwischen ihnen mit der Hand, als könnte sie den Vorfall damit aus der Welt schaffen. »Aber ich liebe euch beide so sehr, ich ertrage es nicht, wenn ihr streitet.« Sie redete hastig und in ihrer süßesten Stimme, die Stimme, die Roxanne ihr Leben lang gehört hatte, wenn Dinge aus dem Ruder gelaufen waren. »Ich brauche euch. Beide.«
Benommen ging Roxanne auf die Tür zu.
Simone packte sie am Arm. »Alles ist gut. Ehrlich, nichts von alldem ist von Bedeutung. Wirklich. Lass mich nicht wieder im Stich.«
Manchmal, wenn Roxanne gerade dachte, sie kenne jede einzelne von Simones Darbietungen, hob sich der Vor hang wieder zu etwas unerhört Neuem. Zuerst: Simone stark und entschlossen, übernimmt Verantwortung für ihr Leben. Gewissheit . Unabhängigkeit. Abtreibung. Die Pille. Und jetzt: Wimmernd und bedürftig. Alles ist gut. Lass mich nicht wieder im Stich .
Wieder?, fragte sich Roxanne. Wann hätte ich dich jemals wirklich im Stich gelassen, Simone?
»Du sagtest, du würdest auf die Mädchen aufpassen.«
»Was redest du da? Ich habe nichts versprochen.«
»Wir zählen auf dich«, sagte Johnny und schlang den Arm um die Taille seiner Frau.
Roxanne lebte in einem Film, in dem sich die Realität von einer Szene zur nächsten verschob.
»Antworte mir einfach, Simone. Hast du gehört, was Johnny zu dir gesagt hat?«
»Oh, natürlich habe ich es gehört.« Sie neigte den Kopf auf eine Art, die manch einer vermutlich als Geste betörender Weiblichkeit ansehen würde. »Er hat es nicht so gemeint, Rox. Du kennst Johnny. Er regt sich eben schnell auf.« Sie
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