Das Gewicht der Liebe
fast neunzig Wörter in der Minute auf einer IBM Selectric und konnte so gut Stenografie, dass sie von einem Pontiac-Vertragshändler am Pico Boulevard eingestellt wur de, obwohl sie erst achtzehn Jahre alt war. In Los Angeles gab es jede Menge Boulevards, Straßen, die von schlanken Palmen, die riesigen Sektquirlen glichen, gesäumt waren, mit Ampeln an jeder Kreuzung, Kaufhäusern und Kinos mit hoch aufragenden Neon-Vordächern. »Boulevard« – manchmal sagte Ellen das Wort laut vor sich hin, schwelgte in dem luxuriösen südkalifornischen Klang.
Die Arbeit bei einem Autohändler war eine hervorragen de Möglichkeit, Männer kennenzulernen. Doch sie verlor nie ihre Vorliebe für diejenigen, die eine Uniform trugen.
Jahre später, als Ellen selbst Großmutter und zweifache Witwe war, fing sie an, via Internet mit Männern in Kontakt zu treten, in der Hoffnung, einen ehemaligen Offizier kennenzulernen, vielleicht einen Oberst, einen Kommandanten oder einen Hauptmann. Ihre Erwartung war nicht unrealistisch, da es in San Diego von ausgedienten Armeeleuten nur so wimmelte. Doch sie lernte nur einen Maschinisten und zwei Stabsfeldwebel kennen, alle mit demselben resignierten Ausdruck, der von Alter und jahrelanger schwerer Arbeit kündete. BJ hätte sicher gesagt, die Welt brauche nun mal Maschinisten und Klempner, aber Ellen brauchte sie nicht.
Sie war schon drauf und dran, dieses ganze Unterfangen aufzugeben, als Dennis Dwight auf ihre Online-Anzeige antwortete. Er erklärte, er sei zweiundfünfzig, was vermutlich bedeutete, dass er knapp sechzig war. Denn ganz gleich, wie fit und attraktiv, sechzig war die Grenze, die niemand in der Online-Dating-Welt überschritt. Ellen hatte Dennis erzählt, sie sei achtundvierzig, ein Alter, das sie, wie sie fand, mit ein wenig Aufwand durchaus hinkriegen könnte.
Obwohl er kein Militär war, hatte Dennis vieles, das für ihn sprach. Er kannte das Central Valley und war in Modesto aufgewachsen, das größer als Daneville war, aber genauso eine Sackgasse. Wie Ellen hatte er sein Zuhause nicht schnell genug verlassen können. Er berichtete vage über irgendwelche Jobs im Ausland und erwähnte Kuwait, Istanbul und Saigon. Sie interpretierte seine kryptischen Antworten auf ihre Fragen als Hinweis darauf, dass er für die Regierung arbeitete und einem Schweigegebot unterlag. Nach einigen Wochen E-Mail-Kontakt gingen sie dazu über, sich am Telefon zu unterhalten, oft spätabends, wenn Ellen normalerweise wach gelegen und an BJ gedacht hat te. Am Telefon hatte Dennis eine tiefe und vertrauenerweckende Radiomoderatorenstimme und ein wunderba res, unbeschwertes Lachen. Er erzählte ihr Witze, die nur einen Hauch schmutzig waren, aber niemals beleidigend. Während ihrer Gespräche fragte er sie oft, was sie anhabe, und sie begann sich für die Anrufe hübsch zu machen. Sie kaufte bei Neiman Marcus ein weißes Seidennachthemd, rückenfrei und durchsichtig.
Wenn BJ vom Himmel zu ihr herabblickte, überlegte sie, so würde er verstehen, dass sie wegen ihres Alters schwindelte. Und er würde ihr das Nachthemd vergeben und die Dinge, die sie zu Dennis am Telefon sagte und die sie er röten ließen, wenn sie sich am nächsten Morgen daran erinnerte.
Sie hatten ausgemacht, sich heute Abend zum ersten Mal persönlich zu treffen. Der Dienstag war ein seltsamer Tag für ein Rendezvous, aber wen kümmerte das. Wenn alles gut lief, würden sie alle Samstage der Welt für sich haben. Bei anderen Männern hatte sie früher darauf gedrängt, sich auf einen raschen Kaffee zu treffen, was sie als Probe-Date betrachtete. Bei Dennis schien das nicht nötig zu sein. Sie hatten sich so oft und über so viele Dinge unterhalten, dass sie einfach zusammenpassen mussten.
Dennoch war sie nervös und hatte für ihr Aussehen einigen Aufwand betrieben. Am Vormittag hatte sie sich die Haare schneiden und färben lassen und sich einer Maniküre und Pediküre unterzogen. Sie hielt ihre Hände hoch und bewunderte den frischen Lack in der Farbe von Himbeeren. Die Vietnamesin, die ihr die Nägel gemacht hatte, hatte gemeint, es sei eine sehr schöne Farbe, sehr hübsch. Die Frauen in dem Salon hatten ununterbrochen in ihrer komplizierten Sprache geplappert, während sie mit ihren dünnen, weißen Händen Ellens Nägel feilten und ihr die Füße auf eine Art massierten, die Ellen nicht wirklich als angenehm empfunden hatte. Sie hatte sich bemüht, die Frauen zu ignorieren, war aber den Verdacht nicht losgeworden,
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