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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Campbell Drusilla
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das die Wespen machten. Als sie die Hand hob, um ihre schweißbedeckte Stirn abzuwischen, verloren einige der gestreiften Brum mer das Interesse an dem Obst und umkreisten ihren Kopf. Bin nen eines Moments waren sie in ihren Ohren, auf ihren Li dern, an ihren Mundwinkeln. Ihre winzigen Beine wander ten über ihre Haut. Laut schreiend rannte sie zur Wä schespinne und wand sich in den nassen, gebleichten Laken.
    Sie erinnerte sich an einen anderen Tag, ein paar Jahre später, ein Wintertag nach einer Woche zähen, kalten Regens. Dicker tüllartiger Nebel bedeckte das Central Valley, und in den Radionachrichten wurde von Massenkarambolagen auf dem Highway 99 berichtet. Sie stand zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter auf der Veranda des großen Hauses und blickte zu ihrem Vater hinüber, der, einen Seesack über die Schulter geschwungen, in der Einfahrt neben Grandpas Wagen, ein Hudson, stand. Ellen trug eine Wollhose und einen blauen Pullover und Buster-Brown-Schuhe, deren Spitzen zu einem dumpfen Orange abgewetzt waren.
    Daddy sah ernst aus, aber seine Augen funkelten: Er freute sich, wollte es aber nicht zeigen. Er habe Anweisungen, hatte er Ellen erzählt, die direkt aus Washington kämen. In seine Armeeuniform gekleidet und hübsch wie der Schauspieler Dana Andrews im Kino, würde er sich nach Japan verschiffen lassen, und anschließend würde er nach Korea gehen, um ein paar Rote zu erschießen. Er hatte Ellen in dem großen Atlas gezeigt, wo sich diese Orte befanden.
    Eine körperlose Stimme ertönte aus dem Nebel: »Wayne.« Im Hudson sitzend, blinkte Ellens Großvater die Scheinwer fer an und aus.
    Ellens Großmutter sagte, sie sollten nicht zu schnell fahren und auf Glatteis auf den Straßen achten. Daddy nickte, doch er sah sie nicht an, weil sein Blick auf Mommy ruhte, als wollte er sie, könnten Augen essen, ganz und gar ver schlingen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, kam er zu ihnen herauf und nahm Mommy so lange in die Arme, dass Ellen ungeduldig wurde. Mommy begann zu weinen, und er drehte sich um und ging die Stufen wieder hinunter. Ellens Großmutter sagte zu Mommy, sie solle sich zusammenreißen. »Mach die Sache doch nicht noch schlimmer!«
    Am Fuß der Treppen wandte sich Daddy um und breitete die Arme aus, und Ellen sprang hinein. Er sagte, sie sei seine Zuckerschnecke, und warf sie hoch und drückte sie dann so fest an sich, dass seine Medaillen in ihre Haut einschnitten. Sie mochte Medaillen, es war ein guter Schmerz.
    Ellen hatte viele Erinnerungen an die Zeit, nachdem ihr Vater nach Korea gegangen war, manche davon waren schlimm, manche richtig gut. Aber im Grunde waren sie nicht mehr als flüchtige Bilder von Menschen und Ereignissen und Orten, die so wenig bedeuteten, dass sich Ellen nun fragte, warum sie in ihrem Kopf so viel Raum einnahmen: Liedzeilen, Schnappschusserinnerungen an ihre weinende Mutter und an durchwachte Nächte, in denen Ellen Puzzles zusammensetzte, Erinnerungen an die Schule und Freunde und an Jimmy Nissen, wie er ihr in der siebten Klasse das Rauchen beibrachte und wie man auf der unüberdachten Tribüne des Footballstadions und in Autos, die neben dem Speichersee geparkt waren, Olympia-Bier in einem Zug austrank. Sie erinnerte sich, wie sie den Hudson im Nebel in einen Graben gefahren hatte; und an den alten Mann, ihren Großvater, der, verrückt wie eine wild gewor dene Wespe, mit seiner zittrigen Stimme sagte, er wisse nicht, von welchem Ort auf Gottes grüner Erde Ellen her komme. »So sicher wie die heilige Hölle nicht aus meiner Familie.«
    Ihr Vater zog nach Texas und hatte eine neue Frau und neue Kinder. Und es dauerte eine endlose Zeit, bis Ellens Mutter schließlich zu weinen aufhörte. Von da an drehten sich ihre Gedanken nur noch um die Bewirtschaftung der Farm, um Sparen und darum, Ellen das Leben schwer zu machen. Ihre Streits waren schlimmer als jene, die Ellen früher zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter erlebt hatte.
    Eines Sonntagmorgens stand Ellen in der Küche und kreischte: »Ich hasse dich! Wenn ich erwachsen bin, wer de ich dieses Drecksloch verlassen und nie wieder zurückkommen.«
    Am Tag nach ihrem Highschool-Abschluss stieg Ellen in den Greyhound nach Los Angeles. In der Schule war sie eine mittelmäßige Schülerin gewesen, bis auf die Kurse in Wirtschaft und Buchführung, wo sie drei Jahre hinter einander den Preis für zukünftige Chefsekretäre gewonnen hatte. Zu der Zeit, als sie in Los Angeles einen Job such te, tippte sie

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