Das Gewicht der Liebe
Idee, dass ich nicht einkaufen gehen möchte?«
»Du könntest mir sagen, was du haben willst, und ich könnte es für dich bestellen.«
Als Merell sieben wurde, hatte Johnny ihr einen Computer gekauft. Simone hatte keine Ahnung, wie er funktionierte, und traute sich auch nicht zu fragen, weil sie wusste, dass es viel zu kompliziert für sie war und sie sich die Demütigung ersparen wollte.
»Ich kann sehr gut leben, ohne dass du meinen Alltag organisierst, Merell. Du bist genauso rechthaberisch wie Roxanne.« Und Alicia .
Sie fühlte den ersten Nadelstich beginnender Kopfschmerzen, die Art von Kopfschmerzen, die zwischen den Schulterblättern begann, ihre Klauen in ihren Nacken schlug und sich unter ihre Haut bohrte. Aspirin konnte nichts dagegen ausrichten, trotzdem schluckte sie rasch vier Tabletten.
Merell saß an der Theke und beobachtete sie. »Mommy, kriegst du ein neues Baby?«
Simone öffnete einen Schrank, nahm einen blauweiß gestreiften Kaffeebecher heraus und stellte ihn dann wieder zurück. Es war zu heiß für Kaffee. Der Schatten einer tief gehenden, knochenschmelzenden Kraftlosigkeit legte sich über sie.
Gott, nein, nicht heute. Bitte, nicht heute.
»Ich mag Babys, Mommy.«
»Was für ein Glück, weil du mir helfen wirst, dieses Baby zu versorgen. Und Olivia. Und die Zwillinge.« Und nach diesem Baby das nächste und übernächste, so lange, bis Johnny endlich seinen Sohn hatte.
Sie hielt ein Glas unter den Hahn an der Vorderseite des Kühlschranks, ließ Eiswasser hineinlaufen und kippte es hinunter, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Eine Faust aus betäubender Kälte knallte gegen ihren Rachen.
»Mommy, ich wette, wenn du Nanny Franny anrufst, wird sie zurückkommen. Sie hat uns gern.«
»Ich will sie nicht zurückhaben, Merell. Und ich bete zu Gott, du würdest endlich aufhören, mir zu sagen, was ich tun soll.« Die Muskeln in ihrem Hals waren nicht kräftig genug, um ihren Kopf gerade zu halten.
»Kriegen wir dann eine andere Hilfe? Kann ich Tante Roxanne anrufen?«
»Benutz den Verstand, den Gott dir gegeben hat, Merell. Deine Tante hat einen Beruf, sie ist Lehrerin. Heute ist Donnerstag, da ist Lehrerkonferenz.«
Merell zupfte heftig an ihren Ponyfransen.
»Du wirst eine Glatze kriegen, wenn du damit nicht aufhörst. Dann wirst du noch hässlicher sein.«
Merells Gesicht wurde spitz, und Simone wünschte augenblicklich, sie könnte die gemeinen Worte zurücknehmen. Merell konnte nichts dafür, dass sie in der Neugeborenenstation vertauscht worden war, ausgetauscht gegen Simones wahres Kind, einen Baby-Jungen. Stimmen in Simones Kopf – ein Chor aus Johnny und Ellen und Roxanne – sagten ihr, dies sei lediglich Einbildung, ein verrückter Gedanke. Aber Simone war sich dessen ganz und gar nicht sicher. Es gab Zeiten, in denen sie nicht sagen konnte, wo die Wahrheit aufhörte und die Fantasie begann.
Wenn du nur nicht so hilflos wärst …
Sie summte das Alphabet-Lied und konzentrierte sich darauf, die zum Backen nötigen Zutaten und Geräte zusammenzusuchen. Eines Nachmittags hatte sie vom Bett aus im Kochkanal gesehen, wie eine untersetzte, dunkelhaarige Frau Schokoladen-Cupcakes innerhalb von fünf Minuten zubereitete. Erst die trockenen Zutaten abmessen, dann die feuchten. Zusammenrühren und ins Rohr schieben. Was könnte simpler sein?
Sie öffnete mehrere Schranktüren, bis sie die Rührschüsseln fand, und die ganze Zeit über fühlte sie, wie Merell sie beobachtete, abschätzend, beurteilend.
»Was ist denn los?«
»Meine Schule fängt am Montag an, Mommy. Wenn ich nicht die richtige Kleidung habe, werden mich die anderen Mädchen auslachen. Sie werden nicht meine Freundinnen sein wollen.«
»Was soll mit deiner Kleidung nicht in Ordnung sein?«
»Ich brauche eine spezielle Schuluniform. Ich bin jetzt in der Upper Primary. Weißt du nicht mehr?«
Johnnys heilige alte Schreckschraube, Alicia, würde nie mals so etwas wie eine Schuluniform vergessen. Roxanne würde sie auf eine ihrer Listen schreiben. »Entschuldige, Schatz, das hatte ich ganz vergessen.«
»Kann ich Tante Roxanne bitten, mit mir einkaufen zu gehen? Vielleicht heute Abend? Die Geschäfte sind bis nachts geöffnet.«
Ach, zum Teufel damit.
»Von mir aus.«
»Ich hab dich lieb, Mommy.« Merell hüpfte vom Küchenstuhl, als hätte sie Sprungfedern in den Beinen. »Ich hab dich lieber als alle anderen auf der Welt.«
Olivia hatte ihr Bettlaken, das Gitterbett und sich selbst mit dem Inhalt
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