Das Gewicht der Liebe
ihrer Hüfte in der Küche auf. Die Kleine hatte einen sauberen Strampelanzug an, und ihr Haar war noch feucht vom Waschen. Merell setzte sie in ihren Hochstuhl und lief dann geschäftig in der Küche herum, erwärmte Babymilch in der Mikrowelle, um sie anschließend mit einem Päckchen Haferschmelzflocken zu vermischen, summte eine kleine Melodie vor sich hin, die Simone als Titelmusik von »Shrek« wiedererkannte. Zwischen Löffeln mit Haferbrei und Apfelmus lachte Olivia und schlug die Hände auf das Tablett ihres Hochstuhls. Sie hatte drei Zähne, und Simone kam es vor, als hätte sie diese noch nie zuvor gesehen. Merell redete mit Olivia, brachte sie dazu, ihren Mund weit zu öffnen.
Sie ist eine bessere Mutter als ich.
Noch mehr Zeit verstrich.
Die Wurzeln des Kopfschmerzes sanken zwischen Simones Schulterblättern ein, der Stamm stieg an ihrem Nacken empor, und die Äste breiteten sich von Ohr zu Ohr aus und pochten vor Leben. Sie fand es seltsam, dass sie, wenn sie über ihren Hinterkopf strich, den baumförmigen Kopfschmerz nicht unter den Fingern spüren konnte. Könnte er einen umbringen, so ein Kopfschmerz wie dieser? Dieser Tod schien gar nicht so schrecklich zu sein.
Merell und Olivia saßen im Familienzimmer auf dem Boden und stapelten Plastikbauklötze übereinander. Ein aufgeschlagenes Buch lag neben ihnen.
Merell sagte: »Franny hat Olivia am späten Vormittag, wenn sie ihr Schläfchen macht, immer ein Fläschchen gemacht. Soll ich ihr eines in ihr Bettchen geben?«
Simone fiel auf, dass Olivia richtig hübsch war, wenn sie nicht schrie: braune Augen und ein rundes Gesicht, umrahmt von dunklem Haar. Johnnys Schwestern hatten alle Töchter, die wie Olivia aussahen. Aber Olivia ist meine Tochter, ich habe sie gemacht, dachte Simone. Sie ist in mir gewachsen. Die pulsierenden Kopfschmerzen gingen zurück, und sie fühlte eine Wärme in sich, die sie als Liebe für die arme, normalerweise brüllende Olivia erkannte. Sie wollte etwas Besonderes für sie tun.
»Bringen wir sie nach draußen. Die frische Luft wird ihr guttun.«
»In ihrem Laufstall?«
»Gute Idee.« Sie dachte an den großen, mit sauberer Bettwäsche gefüllten Wäschekorb aus Weidengeflecht, den sie auf der Waschmaschine gesehen hatte. »Sie kann im Wäschekorb schlafen.«
Merell blickte zweifelnd drein. »Heute ist es richtig heiß.«
»Wir stellen sie natürlich in den Schatten.«
»Und wenn die Sonne wandert?«
»Wenn wir die Cupcakes gebacken haben, holen wir sie herein und machen eine Party. Ich glaube, sie ist alt genug, um Cupcakes zu essen, oder?«
Simone stellte sich vor, wie ihre vier Töchter rund um den Tisch saßen, Geschirrtücher um den Hals gebunden, damit ihre Kleider sauber blieben, die Finger und Gesichter mit Schokoladenkuchen und Glasur verklebt.
Im tiefen Schatten des Avocadobaums am hinteren Ende der Terrasse entfaltete Simone den Laufstall und stellte den Wäschekorb mit frischen Betttüchern und Kopfkissenbezügen hinein. Olivia war ein kleines Baby und nicht daran interessiert, ihre Welt zu erforschen. Mit etwas Ermunterung setzte sie sich allein auf und rollte herum, doch sie krabbelte noch nicht und zeigte kein Verlangen danach, allein zu stehen. Der Wäschekorb war für sie die perfekte Lösung.
Du bist wie ich, dachte Simone, während sie die Bettlaken drapierte, um die Babyflasche dagegenzulehnen. Sie hatte ein kleines Mädchen hervorgebracht, so winzig und so langsam in seiner Entwicklung, wie sie selbst gewesen war. Du wirst genauso werden wie ich, aber Johnny will nicht, dass eine unserer Töchter so wie ich wird. Dumm und hilflos.
Sie blickte auf das Baby hinunter und spürte, wie sie unter dem Gewicht aus Liebe und sicherem Versagen zusammenzubrechen begann, ein Gewicht, so schwer, wie es keinem Menschen aufgebürdet werden dürfte.
13
M erells Mutter war vor Stunden nach oben gegangenund hatte versprochen, sie werde zurückkommen, sobald ihre schlimmen Kopfschmerzen etwas nachgelas sen hätten. Die Zwillinge waren quengelig, weil es keine Cupcakes gab, doch Merell war nicht enttäuscht, weil sie einsah, dass ihre Mutter die besten Absichten gehabt hatte.
Merell machte die Küche sauber, fegte von der Theke das verschüttete Mehl und vom Boden den verstreuten Zucker, der unter den Füßen knirschte. Sie stellte die Eier in den Kühlschrank zurück und ging dann nach draußen auf den kleinen Spielplatz, um mit ihren Schwestern zu spielen. Die Mittagessenszeit kam und ging, und die
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