Das Gewicht des Himmels
gesünder, du wärst nicht so gut informiert. Dann würdest du zumindest besser schlafen. Du wirst ohnehin schnell genug erwachsen sein. Man wird so leicht zynisch und abgestumpft.« Er riss ein hauchdünnes Stück Pergamentpapier von einer Rolle, legte es über die Zeichnung und rollte beides zusammen.
»Vielleicht sollte man sich mehr Mühe geben, nicht so zynisch und abgestumpft zu sein.«
Thomas lachte und goss sich noch einen Drink ein. »Einen Toast auf dich, Alice. Du bist wirklich eine schlaue junge Dame und dazu sehr klug für dein Alter. Sogar sehr klug für mein Alter. Möge dich nichts und niemand jemals enttäuschen. Jetzt nimm deine Zeichnung und geh. Ich muss arbeiten.«
»Darf ich morgen wiederkommen?«
»Wenn du nicht wiederkommst, werde ich verrückt. Wie du schon so nett gesagt hast, brauche ich Hilfe dabei, meinen Blickwinkel zu vergrößern.«
Sie war schon fast die ganze Auffahrt hinuntergegangen und beim Haus der Restons angelangt, als sie bemerkte, dass sie ihre Bücher auf dem Tisch neben dem Sofa liegen gelassen hatte. Sie war gar nicht dazu gekommen, ihm das Gedicht zu zeigen. Dann eben morgen , dachte sie. Aber sie wollte eine Zeichnung fertig machen: die Skizze einer Büffelkopfente mit Dominomuster, die sie an diesem Morgen am See entdeckt hatte. Außerdem wollte sie im Laufe des Tages noch mehr Gedichte lesen. Darum kehrte sie um.
Der Wind wurde stärker. Ein Schwarm Stärlinge flog heiser kreischend über sie hinweg. Der nächste Sturm zog auf, und wenn sie nicht schnell genug lief, war sie bald klatschnass, auch wenn das Haus nicht mehr als fünf Minuten entfernt war. Als sie hineinging, ließ sie die Tür hinter sich einen Spaltbreit offen und rief leise seinen Namen. Keine Antwort. »Arbeiten« bedeutete wohl eher schlafen. Er hatte schließlich ganz schön viel getrunken. Sie eilte ins große Zimmer. Die Türen zu den anderen Zimmern waren geschlossen, und alles war still. Es kam ihr vor, als hätte das Haus aufgehört zu atmen. Man hörte kein Ächzen und kein Knacken, obwohl es draußen so heftig stürmte. Sie sah seine Fußspuren im Staub – als wäre ein Geist zur Staffelei hin- und wieder zurückgehuscht.
Ein Windstoß fegte in den Raum und warf die Zeichnungen, die auf der Staffelei gestanden hatten, auf den Boden. Warum hatte sie nicht daran gedacht, die Tür zu schließen? Sie machte sich daran, die Zeichnungen aufzuheben, hielt aber inne, als sie die erste sah, eine farbige Bleistiftskizze. Sie bekam keine Luft mehr und fing an zu schwitzen. Atemlos sank sie auf die Knie.
Selbst wenn sie das Gesicht nicht gesehen hätte, hätte sie Natalie auf der Zeichnung erkannt. Das waren die Arme und Beine ihrer Schwester, die da so lässig quer über dem Sofa lagen. Unter dem einen Knie konnte man eine verblasste Narbe sehen – die Erinnerung an einen Skiunfall vor zwei Jahren. Und das war Natalies Haar, derangiert und wild, wie karamellisierter Sand; eine Strähne hatte sie sich um den Finger gewickelt. Das war die Halskette, die ihr letzter Verehrer ihr geschenkt hatte. Die winzigen Perlen leuchteten auf ihrer Haut. Der Bräunungsstreifen über ihren Brüsten, der Kringel ihres Bauchnabels, die helle Haut, die sich zwischen ihren Hüftknochen spannte – ihre intimsten, geheimsten Stellen lagen offen vor Alice. Und wie um den letzten Zweifel zu zerstreuen, lächelte Natalie wissend aus der Zeichnung heraus.
2
Oktober 2007
F inch stieg aus dem Taxi, angelte mit der einen Hand nach dem Gürtel seines Regenmantels und hielt die andere über den Kopf, um den kalten Oktoberregen abzuwehren. Mit nur zwei Schritten überquerte er den Zebrastreifen. Vorsichtig kletterte er die steilen Stufen des Wohnhauses hoch und wich geschickt dem überall herumliegenden Müll aus. Leider tappte er dabei in die Pfützen, die sich in der Mitte der Stufen gebildet hatten. Seine Socken sogen sich voll Wasser. Er sah, wie das Taxi davonfuhr – jetzt war er hier gestrandet. Einen Moment lang erwog er, einen Fahrdienst anzurufen und nach Hause zurückzukehren, in sein hell erleuchtetes, properes Stadthaus in Prospect Heights. Dort war der Kühlschrank – seiner Tochter sei Dank – gut gefüllt mit gesundem, aber langweiligem Essen. Denk an deinen Blutdruck, sagte sie immer. Denk an dein Herz und an deine Knie . Er erwiderte dann immer: Inwiefern sind Trockenpflaumen gut für meine Knie? Und er überprüfte stets, ob er daran gedacht hatte, die Pfeife zu verstecken. Sie zuckte dann bloß
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