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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Kampf mit der Lücke, die Claire hinterlassen hatte, merkte er, dass er sich in einen unangenehmen Menschen verwandelte. Zu ihren Lebzeiten hatte er seine Mitmenschen immer durch ihre viel großzügigeren Augen betrachtet. Die Nachbarn, die sie immer als fürsorglich bezeichnet hatte, fand er neugierig und übergriffig. Wenn er ihnen begegnete, schauten sie sorgenvoll drein und schnalzten mitleidig mit der Zunge. Die Frau von gegenüber, für die Claire manchmal puddingartiges Zeug gekocht hatte, schien unfähig, die kleinsten Dinge selber zu erledigen, und rief ihn an, wenn sie eine Glühbirne eingeschraubt oder die Treppe gefegt haben wollte. Als wäre er der Hausmeister. Die ganze Menschheit schien sich nur noch gegenseitig zu belästigen, mit Grobheit und schlechten Manieren.
    Im sechsten Stock wurde ihm klar, dass es ziemlich leicht war, die Schuld auf Thomas abzuwälzen. Der Mann bot sich als Zielscheibe einfach an. Doch mit jedem weiteren Schritt fielen Finch weitere Dinge ein, mit denen er selbst seine Frau über die Jahre hinweg mit Sicherheit gekränkt hatte. Die Galerieeröffnungen, die Partys, die Empfänge – überall hatte Thomas Hof gehalten, den Arm um die Hüfte irgendeines jungen Dings gelegt. Diese Mädchen trugen Kleider, die ihre nymphenhaften Figuren betonten, hatten glänzendes, schulterlanges Haar und dunkle Schmollmünder, die immer in der Nähe von Thomas’ Ohr waren. Dieselben Mädchen sahen stets an Finch vorbei, meist auf irgendeinen Punkt über seiner Schulter. Sie taten nicht mal so, als würden sie sich für ihn interessieren. Trotz seiner Chancenlosigkeit hatte er immer wieder wie zufällig seine Hand von Claires Hand weggezogen, seinen Arm von ihrer Taille gleiten lassen. Oft hatte er sich auch einen halben Schritt von ihr weggestellt, eine Distanz zwischen ihnen beiden geschaffen, indem er sie am Ellenbogen nahm und sie in Richtung der Bar oder des Kellners drehte. Als wäre sie nicht gut genug für ihn – nicht in dieser Situation und mit diesen Leuten. In seinem Kopf hämmerte es, und sein Rücken brannte wie Feuer, als er sich die restlichen Stufen hinaufquälte. Dabei war sie in jenen opulenten Galerieräumen, die eine solche Kälte ausstrahlten, dass er fast seinen eige nen Atem sehen konnte, wirklicher gewesen als alles andere.
    Aber da war noch etwas, für das er allein die Schuld trug, etwas, was sie tief gekränkt hatte, das wusste er genau. Es war die Art, wie er ihr zeigte, dass Thomas’ Talent zu hoch für sie war, dass man sich in der Gegenwart eines solchen Genies unterordnen und eine Nebenrolle akzeptieren musste. Mehr als einmal hatte Finch sich gerade noch verkniffen zu sagen: »Das verstehst du einfach nicht.« Aber Claire hatte es sehr wohl verstanden. Sie hatte begriffen, dass dies seine Chance auf den ganz großen Erfolg war – und dass er mehr getan hatte, als nur der Versuchung zu erliegen. Er hatte sich geradezu hineingestürzt, mit dem Kopf voran, und dabei einen riesigen Schwall verursacht, der drohte, alles und jeden in seiner Nähe zu verschlingen.
    Vor vierzig Jahren hatte er Kunstgeschichte unterrichtet und seine Familie mit einem Gehalt durchgebracht, das die College-Leitung in Anbetracht seines Alters und seiner geringen Erfahrung für großzügig gehalten hatte. Ein Kollege schlug ihm vor, sein mageres Einkommen mit Texten für Ausstellungskataloge aufzubessern, und bald darauf schrieb er auch Kritiken für die Zeitung. Dabei achtete er darauf, immer fair und ausgewogen zu berichten. Diese Haltung verschaffte ihm weder begeisterte Anhänger noch erbitterte Feinde, aber immer wieder neue Aufträge. Mit Lob ging er maßvoll um; er verteilte genug, um Künstler, die er für vielversprechend hielt, zu ermutigen, aber nie so viel, dass es enthusiastisch oder gar bauchpinselnd klang. Eines Tages erreichte ihn die Bitte einer Kollegin aus der englischen Fakultät. Es gebe da einen jungen Mann, sehr begabt, wie sie gehört habe, der eine kleine Ausstellung in einer Galerie in der Stadt habe. Könnte er dort nicht mal vorbeigehen? Der Vater des Künstlers sei reich und gut vernetzt und habe dem College einige großzügige Spenden zukommen lassen. Ob er nicht wenigstens einen kurzen Blick auf die Arbeiten werfen würde? Finch seufzte und gab schließlich nach. Erst einige Tage später erinnerte er sich auf dem Nachhauseweg wieder an sein Versprechen, kehrte gereizt um und fuhr zur Galerie.
    Zuerst hielt er Thomas für den Galeriebesitzer. Für einen

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