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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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jungen Künstler war er zu gut angezogen und zu wenig nervös – es war immerhin seine allererste Einzelausstellung. Er stand in einer Ecke, umringt von einigen Frauen, die er um einen Kopf überragte. Hin und wieder opferte eine ihre hart erkämpfte Position, um sich noch ein Glas Wein oder etwas Käse zu holen, und fand bei ihrer Rückkehr den Platz vergeben. Amüsiert beobachtete Finch den Kampf um die Nähe des Mannes. Die Frauen setzten gnadenlos die Ellenbogen ein und bedachten sich gegenseitig mit bösen Blicken. Als Finch die Wogen teilte und seinen Arm dazwischenzwängte, um sich vorzustellen, lächelte Thomas nur schwach, ergriff Finchs Hand aber ganz fest und zog sich daran aus dem Kreis, sodass man beinahe meinen konnte, ihm wäre ein Rettungsring zugeworfen worden.
    »Was meinen Sie, wie lange muss ich bleiben?«, fragte Thomas und strich sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht. Finch schätzte, dass sie etwa gleichaltrig waren – aber das war auch die einzige äußerliche Eigenschaft, die sie teilten. Thomas war sicherlich eine hervorstechende Erscheinung, mit schmaler Nase, unruhigen grauen Augen, die Haut so blass wie eine unbemalte Leinwand. Er trug Quastenslipper, die so neu aussahen, dass er sie wahrscheinlich eigens für diesen Anlass gekauft hatte. Seine Kleidung wirkte teuer und maßgeschneidert – und machte Finch bewusst, wie nachlässig er selbst angezogen war: leicht zerknittert, fast schon schlampig.
    Verwirrt schüttelte er den Kopf: »Was meinen Sie?«
    »Hier, meine ich. Kann ich abhauen, wenn die Drinks alle sind, oder muss ich warten, bis die Leute gegangen sind? Ich weiß jedenfalls, was ich lieber täte.«
    Finch lächelte. Der Mann war entwaffnend ehrlich. »Sie sind gar nicht der Galeriebesitzer.«
    »Ich fürchte, nein. Ich bin der, von dem das ganze Zeug an den Wänden ist. Thomas Bayber.«
    »Dennis Finch. Nett, Sie kennenzulernen. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel, aber ich sollte mich jetzt ein bisschen umsehen.«
    »Ah, Sie sind Kritiker, oder?«
    »Leider ja.«
    »Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Im Allgemeinen halten mich die Leute für ziemlich brillant.« Er signalisierte einem vorbeikommenden Kellner, dass er zwei Drinks wollte, und schaute Finch ins Gesicht. »Ich freue mich auf Ihre Kritik. Schreiben Sie für die Times? «
    Finchs Sympathie für ihn schwand ein wenig. »Mr. Bayber, das ist Ihre erste Ausstellung, damit befasst sich die Times nicht.«
    »Bitte sagen Sie Thomas zu mir. Zum Glück nennt mich niemand Mr. Bayber.« Er legte Finch einen Arm um die Schultern, als wären sie Verschwörer. »Vielleicht sind wir beide ja in besseren Positionen, wenn wir uns das nächste Mal treffen.« Thomas deutete auf eine Reihe von Gemälden. »Wie gesagt, ich freue mich auf Ihre Kritik.«
    Noch nie hatte Finch etwas so sehr missfallen, bevor er es überhaupt gesehen hatte. Das wird eine richtig polemische Kritik, dachte er, denn mit Hybris konnte er einfach nicht umgehen. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, wie wichtig Respekt und Achtung waren. Aber als er dann vor den Bildern stand, konnte er nicht umhin, Thomas’ großes Talent zu bemerken – und war aufgewühlt. Diese Serie surrealistischer Porträts war etwas völlig Neues. Sie wirkten neu und frisch in einer Zeit, in der diese Richtung schon totgesagt worden war. Bayber setzte Farbe auf kühne, aufregende Weise ein – es war beinahe, als schriee sie laut. Die Bilder strahlten außerdem eine Intimität aus, durch die der Betrachter sich wie ein Voyeur fühlte. Die Menschen um ihn herum betrachteten die Werke gebannt, schweigend. Finch brauchte dringend etwas frische Luft. Er versuchte, sich Notizen zu machen, strich aber alles wieder durch, weil er nicht in der Lage war, das, was er sah, zu beschreiben. Er spürte ein Prickeln auf der Haut und einen Kloß in der Kehle. Als er sich umdrehte, stand Bayber da und musterte ihn lächelnd.
    Im siebenten Stock machte Finch wieder eine Pause und wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von Gesicht und Nacken. Es war erst vier Uhr nachmittags, und er war schon völlig erschöpft. Vor der Tür zu Thomas’ Apartment wunderte er sich, warum er ihn nicht gefragt hatte, aus welchem Grund er vorbeikommen sollte. Als er an die Tür klopfte, sprang sie auf. Die Vorhänge waren aufgezogen, und Tausende Staubkörner kreisten in den schwachen Lichtstrahlen, die ins Zimmer fielen. Die Decke war wie gewohnt elfenbeinfarben, aber die Wände hatten sich seit seinem letzten

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