Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
»Gestern habt Ihr Euch nach dem Buch erkundigt, das ich lese. Nun, ich kann Euch sagen, Vers für Vers eröffnet es wie ein Fernglas einen Blick auf die fernsten Grenzen dessen, was ein Mensch ist. Und dort, wo ein Objekt in der Ferne verschwimmt, weil selbst diese Linse zu schwach ist … genau dorthin sehne ich mich. Ich will wissen, wozu ich fähig bin …«
Jastail blickte in die Ferne und zitierte aus dem Gedicht:
Der Vogel, der die Flügel nutzt, nur um Fliegen zu fangen
Mag sein Gefieder noch so prächtig sein
Ist als Geschöpf bedeutungslos.
Ein Pferd, das starke Beine nur
Dazu gebraucht, einen Pflug zu ziehen
Ist ein Mahl, das auf den Kochtopf wartet.
Was also ist ein Mann, so edel an Vernunft, fein in Einzelheiten, mit klugem Verstand
Der ruht und sich erhebt an jedem Morgen, um eine Furche zu jäten,
einen Krug einzuschenken oder über Linien auf Landkarten sich zu streiten?
Wie viel geringer noch ist er, mit solchen Fähigkeiten ausgestattet
Und doch mit jedem Atemzug darauf bedacht, wieder einen neuen Mann zu zeugen
Der wiederum nur essen und trinken und streiten wird, bis er zur Ruhe geht.
Jastail lächelte wieder. »Da habt Ihr es … das bin ich, ganz und gar.«
»Bittere Worte für einen Poeten.«
»Die Wahrheit klingt stets bitter in Ohren, denen sie fremd ist.« Jastail packte seinen Käse wieder ein und deutete auf Penit. »Dem Jungen kann man es nachsehen, aber Ihr tätet besser daran, das Gedicht zu verstehen.«
Wendra betrachtete Penit. »Ich verstehe es sehr wohl«, erklärte sie schließlich, ohne Penit aus den Augen zu lassen. »Die Worte eines Feiglings, verfasst mit dem Gedanken an sein eigenes Grab. Manche Männer bringen es zu nichts, weil sie nach nichts streben.«
»Und so bewertet Ihr also einen Autor?«, fragte Jastail und zog interessiert die Brauen hoch.
»Nein«, erwiderte sie scharf. »So bemitleide ich jemanden, der so wenig von seinem eigenen Beitrag hält, dass er wie der Sterling sein Nest beschmutzt und es jenen, die nach ihm kommen, so besudelt hinterlässt.« Sie musterte Jastail forschend. »Ist das wirklich alles, was Ihr seid? Seid Ihr wie der Verfasser des Gedichts? Vielleicht verschleppt Ihr den Jungen und mich deshalb zu irgendeinem geheimen Ziel. Ihr seid der Sterling, der das Nest beschmutzt, indem er eine Frau und ein Kind tötet oder verderbt.«
Jastail antwortete nicht. Er starrte Wendra stumm an. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Mischung aus Hass und Mitgefühl. Sie wusste nicht, ob sie selbst an das glaubte, was sie eben gesagt hatte. Doch es beruhigte sie und befriedigte ihren Gerechtigkeitssinn, ihn zu beleidigen und dazu etwas zu benutzen, das ihm wichtig war, genau wie er Penit benutzte, um sie zu erpressen.
»Keine Widerworte von dem Möchtegern-Reimschmied?«, sagte Wendra schließlich. »Eure klügste Entscheidung seit über einer Woche.«
Jastail stand auf und stellte sich zwischen Wendra und Penit, der gerade mit einem Arm voll Feuerholz zurückkam. »Ihr habt eine scharfe Zunge und einen klugen Verstand, aber auf den Straßen weit weg von Eurem gemütlichen Zuhause ist eine Wahrheit unabänderlich: Alles ist ein Gut, das man kaufen und verkaufen kann, und was nicht zu verkaufen ist, kann man sich nehmen, wenn man bereit ist, das Risiko einzugehen.« Seine Mundwinkel sanken zu diesem Ausdruck vollkommener Apathie herab, den sie so verabscheute. »Ihr mögt viele kluge Worte machen, und doch werdet Ihr tun, was ich sage, weil das Risiko für euch beide« – mit einer unauffälligen Kopfbewegung wies er auf Penit – »einfach zu groß ist. Und wenn unser Vers geschrieben ist, meine Teuerste, werdet Ihr eine winzige Randbemerkung sein, eine Inschrift auf einem Grabstein.«
Wendra öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Penit war bereits bei ihnen. Sie schloss den Mund und verbiss sich ihre Bemerkung mit einem säuerlichen Lächeln. Jastail grinste breit und nahm Penit einen Teil seiner Ladung ab.
Wie Staffelläufer trieben Wolken hoch oben am Himmel, den der Sonnenuntergang rötlich färbte. Wendra versorgte ihr Pferd, nahm ihre Spieluhr aus ihrem Bündel und umklammerte sie mit beiden Händen. Sie wollte sie nicht spielen lassen, weil sie fürchtete, Jastail könnte ihr die Musik verderben. Aber das Kästchen in der Hand zu halten war genug. Sie hörte in Gedanken die Melodie und sah zu, wie der feurige Himmel einem samtenen Violett wich, während Penit Jastail half, das Feuer zu schüren. Bald untermalte das Knacken
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