Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
solchen Kanal entlang und vergaß für den Augenblick den Fremden, an dem er vorbeilief.
Der Kanal öffnete sich in ein tieferes Bassin. Auf einer Seite führten Stufen in dieses Becken hinab.
»Schön und nützlich«, bemerkte der Fremde. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein innerer Konflikt zwischen Bewunderung und Neid, der sein Lächeln zu einem abscheulich schmalen Strich verzog. »Hier wurden sie geweiht. Wenn sie ihre Reise vollendeten.«
Die Worte des Mannes beunruhigten Tahn, obwohl sie etwas Schönes beschrieben. Das Schicksal dieser verlorenen Stadt interessiere ihn nicht mehr. Er und Sutter hatten andere Sorgen. Sie mussten nach Decalam. Wendra war inzwischen gewiss krank vor Sorge, wenn sie nicht selbst Hilfe brauchte. Tahn legte unauffällig eine Hand auf die Stäbe in seinem Umhang. Auch aus anderen Gründen mussten sie sich beeilen.
Tahn blickte zu dem Mann auf. »Wie finden wir nun hier heraus?«
Der Fremde wandte den Blick nicht von dem Springbrunnen ab. »Was denn, habt Ihr es so eilig, einen derart bemerkenswerten Ort zu verlassen?« Ein schiefes Grinsen breitete sich über sein Gesicht, als er sich schließlich umdrehte, um die gewaltigen Paläste und hoch aufragenden Türme um den großen Platz zu bewundern. »Ihr seid mir schöne Abenteurer, meine jungen Freunde.«
»Werdet Ihr uns helfen oder nicht?«
Der Mann lächelte nicht mehr, als er nach Nordosten zeigte. »Zwischen diesen beiden Türmen.«
Im Norden reckten sich mehrere schlanke Türme dem Himmel entgegen. Tahn konnte bis zu den Klippen schauen, deren scharfe Linien im zarten Morgendunst weicher wirkten. Er sah nicht gleich, was der Mann meinte.
Der Fremde zeigte noch einmal dorthin.
Dann entdeckte Tahn die beiden Türme. Sie ragten in majestätischer Förmlichkeit aus einem Gebäude mehrere Querstraßen weiter empor. An der Außenseite jedes Turms wand sich eine steinerne Treppe in die Höhe. Die Spitzen waren durch eine schmale Brücke verbunden. Und direkt darunter meinte Tahn einen dunklen, senkrechten Strich in der Felswand zu erkennen, die im Dunst verschwamm.
»Das muss eine Lücke im Fels sein wie die Vielstimmenschlucht, oder?«, bemerkte Sutter.
»So ist es«, antwortete der Mann. »Aber sie ist viel schwerer zu finden, als man von hier aus meinen würde. Die Straßen in dieser Richtung verlaufen nicht rechtwinklig, und der Friedhof ist dort drüben eher … unwirtlich.«
Irgendetwas an der Art, wie der Mann das Wort unwirtlich gebrauchte, beunruhigte Tahn.
»Wir gehen einfach an der Felswand entlang, bis wir die Lücke darin finden«, erklärte Tahn bestimmt. »Das sollten wir leicht schaffen können, ehe es dunkel wird.«
»Da täuscht ihr euch.« Der Fremde starrte Tahn und Sutter an. »Der Neid der restlichen Welt zwang das Volk von Steinsberg, sich zu schützen. Im Westen liegt die Vielstimmenschlucht. Die Schlucht im Norden« – er schaute wieder zu dem fernen, dunklen Strich zwischen den Türmen hinüber – »liegt in einer gefährlichen Wildnis. Die Leute hier haben gelernt, sich darin zurechtzufinden. Aber es sind schon viele Fremde zugrunde gegangen, weil sie versucht haben, sie ohne einen Führer zu passieren.« Er sah Tahn mit fröhlich blitzenden Augen an.
»Lasst mich raten: Ihr kennt den Weg durch diese Wildnis.«
45
TA’OPIN
J astail und Penit ritten nebeneinander vor Wendra her. Der Straßenräuber hatte schlauerweise schnell festgestellt: Wenn er Penit im Griff hatte, hatte er damit auch sie in der Hand. Manchmal sprach er beinahe väterlich mit Penit, dann gab er ihm Ratschläge und lächelte über das lückenhafte Wissen des Jungen, als wären sie Brüder. Penit schien gerade noch jung genug zu sein, um die Umstände dieser Reise zu vergessen und die Unterhaltung mit einem Erwachsenen fesselnd zu finden. In Wendra brodelte derweil die Wut darüber, wie leicht Jastail den Jungen manipulierte. Einmal klopfte er Penit sogar auf die Schulter, als der über eine Bemerkung von Jastail lachte. Wendra war froh über Penits unverwüstliche Fröhlichkeit, doch die schmutzigen Finger des Menschenhändlers auf Penits Schulter zwangen sie, die Augen zu schließen und die misstönende Melodie zu summen, die ihr nicht aus dem Kopf ging.
Farben wirbelten vor ihren geschlossenen Augen. Sie spürte, wie das Blut in den Adern an ihren Schläfen pochte. Sie hörte es Schwall auf Schwall in ihren Ohren rauschen wie ein unablässig wiederholtes Lied. Mit jedem Schlag ihres Herzens, das es vorantrieb,
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