Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Vendanji vorhin in der Ratskammer des Dorfes bezeichnet hatte: als Sheson.
Selbst im Helligtal wusste jedermann, dass die Sheson gejagt wurden. Die Liga der Edukation hatte sie als Spione der Stille gebrandmarkt. Man erwartete von ihnen, dass sie ihre Gaben entweder geheim hielten oder öffentlich ihrem Gebrauch abschworen. Ertappte man sie dabei, dass sie den Willen lenkten, wurden sie hingerichtet, ansonsten jedoch geduldet. Unwillkürlich wich Tahn einen Schritt zurück. Was, wenn dieser Mann die Gestalt war, die er früh am Morgen im Wald gesehen hatte? Nur sehr wenige konnten dem Willen gebieten – diese Fähigkeit musste übertragen werden, und das geschah nur nach jahrelanger, sorgfältiger Ausbildung.
Vendanji griff nach Wendras anderer Hand und half ihr auf. Tahns Schwester stand auf eigenen Füßen, und eine Mischung aus Staunen und Dankbarkeit lag in ihrem schmalen Lächeln. »Ich …«
»Gern geschehen«, sagte Vendanji. »Sutter, siehst du Mira irgendwo?«
»Nein.«
Ein weiteres Kreischen gellte durch den Sturm, tiefer und qualvoller diesmal.
»Wir können nicht länger warten«, sagte er und ging zur Tür. »Binde ihr Pferd vor dem Haus an, wir müssen fort von hier.«
Sutter und Braethen lösten sich von der zerstörten Wand und folgten ihnen.
»Wie sollen wir auf diesen Pferden weit genug fortkommen, Vendanji?«, fragte Braethen.
»Ich kümmere mich schon um die Pferde«, erwiderte der Sheson. »Jetzt hört genau zu. Wir gehen nach Decalam. Den Ort wollte ich euch vorhin im Dorf nicht nennen, wo uns jemand hätte belauschen können. Aber das ist unser Ziel. Vieles hängt davon ab, dass wir es erreichen.«
Vendanji sah ihnen nacheinander fest in die Augen und trat dann hinaus in die Nacht. Tahn warf einen Blick zu Sutter hinüber, dem buchstäblich der Mund offen stand. Decalam! Vor Aufregung und Angst vor einer so weiten Reise, einer so großen Stadt, pochte sein Herz wie wild. Diese Enthüllung des Sheson schien sie alle getroffen zu haben wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Schweigend wechselten die vier fragende Blicke.
Einen Moment später folgten sie Vendanji nach draußen und bestiegen im strömenden Regen ihre Pferde. Wendra kam als Letzte.
Vendanji ging von einem Tier zum nächsten und legte jedem einen Zweig aus seiner kleinen Holzschatulle auf die Zunge. Wieder meinte Tahn, einen Hauch von Pfefferminz wahrzunehmen. Schließlich schwang sich auch der Sheson in den Sattel. Tahn blickte zu dem einsamen Pferd zurück, das noch am Treppengeländer angebunden war – Miras.
In der Dunkelheit erscholl ein gieriger, hasserfüllter Ruf.
»Wir brauchen nicht alle in den Ort zurückzukehren. Mira hat eure Pferde mit Proviant bepackt, ehe wir aufgebrochen sind. Wir haben auch genug für Anais Wendra. Nur Braethen muss noch einmal zurück.« Vendanji lenkte sein Pferd neben ihn. »Ogeas Taschen – schaffst du es, sie allein zu holen?«
Die Beleidigung brannte sogar im strömenden Regen.
Braethen nickte.
»Stoße auf der Nordstraße wieder zu uns. Und beeil dich. Wir müssen die Straße bald verlassen.«
Braethen wartete nicht auf weitere Anweisungen und sprengte davon. In diesem Moment erschien Mira wie aus dem Nichts, sprang in ihren Sattel und trieb ihr Pferd zum gestreckten Galopp.
»Bleibt dicht bei uns.« Der Sheson drückte seinem Pferd ebenfalls die Fersen in die Seiten und verschwand im Regen. Ein Blitz zuckte über den Himmel. Während der Donnerschlag über das Helligtal hinwegrollte, sah Tahn Sutter an.
»Das hast du dir doch immer gewünscht, Rübenbauer.« Er setzte Jole in Bewegung, den beiden nach. Die Übrigen folgten ihm, und sie verschwammen in Dunkelheit, Regen und Sturm zu Schemen und flüchtendem Hufschlag.
Bald waren die Lichter von Helligtal hinter ihnen ver schwunden.
8
DIE NEUNTÖTER FLIEGEN
H elaina Storalaith, Regentin von Decalam, dem Herrschaftssitz von Vohnce, stieß die Flügeltür zu ihre r Reichskanzlei auf und stürmte hinein. Ihr dicht auf den Fersen war Roth Staned, Aszendent – das höchste Amt – der Liga der Edukation. Bald folgten auch General Van Steward und Sheson Artixan. Vier Mitglieder des Hohen Rats, dessen Sitzung soeben in scharfem Streit geendet hatte, standen nun in dem sonnendurchfluteten Raum.
Die Auseinandersetzung war ihr ungebeten in ihr Refugium gefolgt.
»Das ist töricht, Hoheit«, sagte Aszendent Staned. »Lasst Euch nicht von Gerüchten zu übereilten Handlungen verleiten. Es würde für unser Volk einen großen
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