Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Staned.
Er war ein intelligenter Mann, und sie war überzeugt davon, dass er stets zum Wohle des Volkes handelte – oder was er dafür hielt. Und sie war ihm dankbar dafür. Aber es war ihm nicht gelungen, den Rat auf seine Seite zu ziehen, was die beunruhigenden Gerüchte anging. Also war er ihr nachgestürmt, als die Versammlung für beendet erklärt wurde. Und jetzt äußerte er solche Zweifel an ihr, weil sie seinen Vorschlag abgewiesen hatte. Er wollte auf unwiderlegbare Beweise warten, ehe Decalam irgendwelche offiziellen Maßnahmen gegen die Bedrohung durch die Stilletreuen ergriff.
Und das, so dachte sie reuevoll, tat er letztendlich deshalb, weil er selbst auf dem Stuhl der Reichskanzlei sitzen wollte. So würde er dann die Führung der Liga mit dem Amt des Regenten auf sich vereinen.
Womöglich würde er das sogar zugeben, so schamlos war sein Ehrgeiz.
Aber weshalb sollte es ihm da dienlich sein, diese Gerüchte abzutun?
Was stellte die größere Gefahr für ihre Bürger dar: dass sich diese Gerüchte als wirrer Unsinn entpuppten oder dass sie sich als wahr herausstellten, nachdem man nichts unternommen hatte?
Die alternde Regentin konnte die vielen Faktoren nicht zusammenfügen.
Doch eines wusste sie. Wenn Staned nicht bereits gegen sie war, würde sie sich ihn zum Feind machen, wenn sie sich in dieser Debatte nicht auf seine Seite stellte.
Die Diskussion hatte sich festgefahren, und Schweigen breitete sich in der Reichskanzlei aus. Die Regentin trat an eines der großen, offenen Fenster und blickte über ihre Stadt hinaus gen Westen, wo Gewitterwolken sich am Horizont zusammenballten. Bis hierher spürte sie die Spannung in der Luft, die das Unwetter in Wogen vor sich her schob. Die Aussicht auf Regen verlieh ihr neuen Antrieb.
Irgendwie erschien ihr das, worüber sie nachdachte, dadurch wesentlich wirklicher.
Stilletreue im Land – wieder. Konnte das wahr sein?
Schon seit einiger Zeit war ihr Geist eigenartig unruhig. Meist schrieb sie das dem Alter zu. Doch vielleicht lag es in Wahrheit daran, dass sie kurz davor stand, etwas wachzurufen, das über zahllose Generationen hinweg geruht hatte. Es gab Prophezeiungen darüber, was die Einberufung des nächsten Großen Mandats bedeuten würde. Manche glaubten, sie werde das Ende bringen. Andere sprachen von einem Neuanfang, dem Beginn von etwas Finsterem, einem bebenden Flüstern verrottender Lippen, das sich ausbreitete wie eine Fäulnis.
Würde sie diejenige sein, die das in Gang setzte – in ihrem Alter?
Politische Manöver sollten einer jüngeren Regentin überlassen bleiben, dachte sie. Jemandem, der das Durchhaltevermögen besaß, sich Roth Staned so lange wie nötig entgegenzustellen. Sie hatte sein Gerede und seine Phrasen so satt, dass sie oft davon träumte, ihn loszuwerden, indem sie all ihre Macht dazu benutzte.
Doch er hatte mächtige Verbündete, und der Einfluss der Liga war stark gewachsen. Sie drohte sogar zu einer militärischen Macht zu werden.
Sie musste ihn möglichst in ihrer Nähe halten, was ihr die Entscheidung in dieser Angelegenheit so schwer machte. Sie konnte es sich nicht leisten, sich zu irren. Oder genauer gesagt: Sie konnte es sich nicht leisten, sich den Aszendenten der Liga zum Feind zu machen. Jede Entscheidung, die sie jetzt traf, könnte alles zum Einsturz bringen, was sie ihr Leben lang aufgebaut hatte, selbst wenn sich herausstellte, dass sie richtig entschieden hatte. Und der Himmel steh ihr bei, wenn die Gerüchte über Stilletreue stimmen sollten und die Liga sich ebenfalls gegen die Regentin stellte.
Helaina drehte sich langsam im Kreis und blickte durch die Fenster auf allen acht Seiten der Reichskanzlei. In jeder Richtung bot der Horizont einen einmaligen Anblick, und sie schätzte jede einzelne Aussicht. Ja, oft suchte sie eine nach der anderen auf, um sich von diesem Land inspirieren zu lassen, das sich in jeder Blickrichtung anders ausnahm. Sie war dankbar dafür, dass sie diese Aussicht in ihrem Alter noch mit scharfen Augen genießen konnte. Und sie war froh, dass ihr Körper sie noch nicht zu einer gebeugten Haltung zwang. Ihr Haar mochte silbern geworden sein, doch ansonsten hatte das Alter sie noch nicht eingeholt. Allerdings war sie dünner als je zuvor in ihrem Leben – vielleicht lag das an den vielen Sorgen der letzten Zeit.
Heute gab ihr jeder Ausblick auf das Land dieselbe Antwort: Krieg.
Nicht heute und vielleicht noch nicht allzu bald, aber so oder so, der Krieg würde kommen,
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