Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Rückschritt bedeuten, auf überholte Vorstellungen und abergläubische Traditionen hereinzufallen.«
»Vergesst nicht, dass Ihr mit der Regentin sprecht«, warnte Van Steward.
Roth warf dem General mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu. »Wir befinden uns in einer offenen Debatte. Das Protokoll ist außer Kraft gesetzt.«
»Nicht in meiner Gegenwart«, erwiderte Van Steward.
»Der Hohe Rat hat keinen Beschluss dazu gefasst, Helai na«, beharrte Staned. »Ihr könnt das Große Mandat nicht ohne einstimmigen Beschluss des Rats einberufen.«
Artixan hob den Zeigefinger. »Das ist nicht ganz korrekt. Die Regentin allein besitzt die Macht, ein Mandat einzuberufen. Sie kann den Rat dazu hören, aber eine Abstimmung ist in dieser Angelegenheit nicht nötig, geschweige denn Einstimmigkeit. Das wisst Ihr doch, Roth.«
Der Anführer der Liga funkelte den Sheson an. »Heutzutage kann die Regentin solche Macht nicht mehr für sich beanspruchen. Früher einmal, ja. Aber das war vor langer Zeit, als der Verstand von Männern und Frauen durch Aberglauben beherrscht wurde. Die Versammlung jedes einzelnen Herrschers sämtlicher Länder und Königreiche darf nicht der Willkür einer einzigen Person unterliegen. Das richtige Vorgehen muss sich durch die Zustimmung aller ergeben, auch der gewissenhaftesten Gegner. Wenn es wirklich richtig ist, wird es sich beweisen. Das ist die Gesellschaft aufgeklärter Bürger, zu der wir uns entwickelt haben. Wegen ein paar Geschichten aus dem fernen Westen sollten wir nicht um Jahrhunderte zurückfallen.«
Die Regentin wandte sich den Männern zu. »Ihr glaubt also nicht, dass Stilletreue ins Land eingefallen sind, Roth? Habt Ihr die Berichte denn nicht gehört, die eben dem Hohen Rat vorgetragen wurden? Welche andere Erklärung könnte es für all das geben?«
»Liebe Regentin.« Der Aszendent schlug einen leiseren, höflichen Tonfall an. »Die Angst vor der Stille ist in den Menschen tief verwurzelt. Wir alle sind mit den Geschichten über den Born groß geworden. Doch was wir eben gehört haben, könnten ebenso gut hundert Albträume sein, die nur für Stille gehalten wurden. Wollt Ihr wirklich so viele Könige und Herrscher auf Reisen schicken, ohne Gewissheit zu haben? Nehmt einmal an, Ihr ruft das Mandat nach so vielen tausend Jahren als Erste zusammen, und es stellt sich heraus, dass Ihr Euch irrt. Was dann?«
»Ich denke doch, dass Umsicht und Solidarität annehmbare Gründe sind«, entgegnete die Regentin scharf. »Wie die Bedrohung auch aussehen mag – weitgehende Einigkeit in den Reichen der Ostlande würde dem Interesse aller dienen.«
»Außer demjenigen, der diese Macht selbst besitzen will«, merkte Van Steward an.
Roth fuhr zu dem General herum. »Möchtet Ihr das Wort vielleicht direkt an mich richten?«
Van Steward hielt seinem Blick mit der Miene eines Mannes stand, der sich nicht mehr drohen ließ. »Wenn ich eines Tages irgendetwas auf Euch richte, werden es keine Worte sein.«
Roth Staned wandte sich unbeirrt wieder der Regentin zu. »Es wäre wahnwitzig, Helaina. Die anderen Mitglieder des Rates schließen sich Eurer Meinung aus Respekt und Pflichtgefühl an. Das sind prächtige Tugenden, jedoch nicht in der Regierungsführung. Das solltet Ihr besser wissen als jeder andere. Ich appelliere an Eure Vernunft. Die anderen Ratsmitglieder meinen es gut, aber sie sind keine Herrscher, nicht einmal Anführer. Sie sind befangen in der gleichen Angst, die einen Bauern oder Fischer in solchen Fragen packt, denn das sind die Menschen, die sie im Rat vertreten. Die Vernunft hingegen steht heutzutage ganz auf der Seite von Fortschritt und Bildung. Lasst nicht zu, dass alles, wofür wir gearbeitet haben, durch eine einzige Entscheidung zunichtegemacht wird, die einen Beigeschmack von Aberglauben und Rückständigkeit hat.«
Die Regentin schwieg eine Weile. Sie bemerkte den nach denklichen Blick ihres besten und vertrautesten Beraters, Artixan. Dessen finster gerunzelte Brauen verdeutlichten ihr seine Ansicht ohne weitere Worte. Sie richtete den Blick auf den General, einen Mann mit einem eisernen Willen, der nicht nur eine, sondern drei schwere Narben im Gesicht trug. Wie weiße Rinnen zogen sie sich über Stirn und Wange hinab. Van Steward war schwerer zu durchschauen, denn er war es gewohnt, fraglos Befehle entgegenzunehmen. Doch als der Mann kaum merklich das Kinn zu einem angedeuteten Nicken senkte, kannte sie auch seine Meinung.
Blieb nur noch der Aszendent, Roth
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