Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Er hatte nur eine einzige Aufgabe gehabt: seine Schwester während der Zeit ihrer Geburt zu schützen und für sie zu sorgen. Das Grauen dessen, was er jetzt sehen musste, wirbelte in ihm empor und schoss in einem Schwall aus ihm heraus: »Nein!«
Sein Schrei erfüllte das kleine Häuschen, das umso stiller wirkte, nachdem er verhallt war. Doch das Neugeborene gab keinen Laut von sich. Der Bar’dyn ebenso wenig. Auf der Vordertreppe und dem Dach war wieder prasselnder Regen zu hören, wie das Brausen eines fernen Wasserfalls. Dahinter glaubte Tahn galoppierende Hufschläge auf der schlammigen Straße zu hören. Noch mehr Bar’dyn!
Ihm war klar, dass er etwas tun musste. Mit einer zittrigen Bewegung hob er den Bogen und zielte auf den Kopf der Bestie. Die dicken Lippen des Bar’dyn öffneten sich zu einer Art Lächeln, und die grässlichen Zähne standen krumm und schief hervor. Er gab ein heiseres, lachendes Grollen von sich, Augen und Gesicht vor Hass verzerrt.
»Ich werde dich erlegen, das Kind fest gepackt. Velle wird zufrieden sein.« Der Bar’dyn knurrte und ließ seine Klinge in einem brutalen, unmöglich weit erscheinenden Bogen durch die Luft zischen. Sein grausiges Lachen stahl sich in Tahns Herz, er wollte unwillkürlich um sich schlagen, und der Bogen schwankte in seiner Hand hin und her.
Der Bar’dyn lachte erneut und trat auf ihn zu. Tahns wirrer Verstand drehte sich im Kreis, und er klammerte sich an einen Gedanken. Er konzentrierte sich auf das Mal auf dem Rücken seiner Bogenhand, richtete den Blick auf die Umrisse der Nar be und erspürte sie im Geiste. Er fühlte sich plötzlich bestärkt, sicherer, seine Hände wurden ruhig, und er vertiefte die Spannung des Bogens und zielte auf die Kehle des Bar’dyn.
»Lass das Kind los«, befahl Tahn, doch seine Stimme zitterte, und sein Mund wurde schlagartig trocken.
Der Bar’dyn hielt inne und blickte auf das Bündel in seinem rechten Arm hinab. Wieder bleckte er die grässlichen Zähne. Dann hob die Kreatur den Säugling in die Höhe, so dass die Decke zu Boden fiel. Die mächtige Faust war um den Oberkörper des Kindes geschlossen. Das Neugeborene glänzte noch nass, wie es aus Wendras Leib gekommen war. Seine Haut schimmerte im fahlen Feuerschein dunkelrot und violett.
»Kind kam tot, Made.«
Wieder brandeten Trauer und Wut in Tahn auf. Es würgte ihn bei dem Gedanken, dass Wendra in Gegenwart dieses widerlichen Dings hatte gebären müssen und ihr das Kind in dem Augenblick, da sie ihm das Leben geschenkt hatte, von diesen verfluchten Klauen entrissen worden war. Ist das Kind tot zur Welt gekommen, oder hat der Bar’dyn es getötet? Tahn blickte zu Wendra hinüber. Ihr bleiches Gesicht war von Traurigkeit gezeichnet. Er sah zu, wie sie gegen die Worte der Bestie die Augen schloss.
Der Regen trommelte inzwischen laut auf das Dach. Doch die schweren Tritte auf der Straße waren deutlich zu hören, ganz nah jetzt, und Tahn gab die Hoffnung auf, dass sie fliehen könnten. Ein einziger Bar’dyn, von mehreren ganz zu schweigen, würde ihn wahrscheinlich in Stücke reißen, aber diesen hier würde er in den Abgrund schicken, für Wendra und für ihr totes Kind.
Er bereitete sich darauf vor, seinen Pfeil abzuschießen, und nahm sich wie immer die Zeit, jene altvertrauten Worte zu raunen: »Den Bogen spannen meine Arme, doch der Wille löst den Pfeil.«
Er konnte nicht schießen.
Er kämpfte darum, dem Gefühl zuwiderzuhandeln, doch es reichte in jenen Teil seines Lebens zurück, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Er hatte diese Worte immer gespro chen – immer. Er schoss niemals einen Pfeil aus eigenem, frei em Willen ab. Das Bild des Hirsches, den er am Nachmittag auf der Jagd gesehen hatte, stand ihm vor Augen. Auch ihm hätte das Leben nicht genommen werden dürfen, und doch hatte die Gestalt im schwarzen Umhang das Tier getötet und dafür gesorgt, dass Tahn mit ansah, wie sie ein Leben beendete, das noch nicht hätte enden sollen.
Tahn ließ den Bogen sinken, und der Bar’dyn heulte beifällig. »An Willen gebunden, den Tod gefunden!« Seine Worte klangen in der kleinen Hütte wie das Bersten von Holz. »Doch erst sieh die hier gehen«, sagte der Bar’dyn dann und wandte sich Wendra zu.
»Nein!« , gellte Tahns Schrei durch die Hütte, und im selben Moment polterten Schritte auf den Stufen vor der Tür. Tahn war umzingelt. Sie würden alle beide sterben!
Plötzlich schoss diese seltsame Fern durch die eingetretene Tür
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