Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
sonderlich bemerkenswert. Bei uns herrschen andere Gepflogenheiten als in den Königreichen der Menschen.«
»Wenn das so ist, würde ich dich gern etwas fragen, falls ich darf«, sagte Tahn.
»Ich werde dir antworten, wenn ich kann«, erwiderte Mira ein wenig reserviert.
»Hieß das Helligtal früher einmal anders?«
Die Fern beäugte ihn argwöhnisch und wischte sich Wasser aus dem Gesicht. »Du hast Vendanji und mich am Lagerfeuer belauscht.«
»Schuldig«, bekannte Sutter. Er richtete sich auf, und das Wasser kräuselte sich. »Sag es uns. Es ist immerhin unsere Heimat.«
Tahn nickte zustimmend. »Vendanji war nicht gerade freigiebig mit irgendwelchen Erklärungen, obwohl er sich die Freiheit genommen hat, uns auf einen Weg zu schubsen, auf dem uns Bar’dyn und Maere und eine Stadt voller Geheimnisse begegnen.« Er sah Mira fest in die Augen. »Gibt es überhaupt etwas, das wir nicht über das Helligtal wissen dürfen?«
Mira musterte sie beide. Tahn glaubte, einen inneren Konflikt auf ihrem Gesicht gespiegelt zu sehen. »Das ist eine Lesergeschichte – eine alte, die nicht mehr oft erzählt wird –, aber im Grunde kein Geheimnis, das es zu wahren gilt.«
»Nun erzähl schon, sonst sehe ich bald aus wie Merid Lavias Trockenfrüchte.« Sutter hielt die Finger hoch und zeigte ihnen die verschrumpelte Haut.
»Also schön«, sagte die Fern und legte den Kopf auf den granitenen Beckenrand. »Ihr erinnert euch sicher, dass die Großen Väter gegen Ende ihrer Ära im Tabernakel des Himmels das Werk des Einen erkannten und voll Sorge um das Land und dessen Völker waren.«
Tahn und Sutter nickten.
»Die Stille wurde in den Born verbannt und der Schleier davorgezogen. Doch für den Fall, dass der Schleier doch einmal reißen sollte, segneten die Ersten einen Landstrich, den Stilletreue nicht betreten konnten, wo Velle nicht lenken, die Stille sich nicht halten konnte und die Menschen in Harmonie mit dem Allwillen lebten. Der Boden selbst wurde geheiligt und gesegnet, und die Sitten dieses Landes spiegelten das Wissen um die Zyklen wider – wie euer Nordsonn-Fest. Man glaubte, mit einem solchen Ort die Zukunft des Landes sichern zu können, denn eines Tages, davon waren alle überzeugt, würde der Eine einen Weg durch den Schleier finden und seine Getreuen in die Welt hinausschicken.«
Mira hielt inne, schöpfte eine Handvoll Wasser und benetzte sich damit Lippen und Zunge.
Das Helligtal war Tahns Heimat gewesen, solange er zurückdenken konnte, doch die Vorstellung, dass es von den Ersten selbst gesegnet worden war, erstaunte ihn.
Sutter schien die Sorge um seine verschrumpelten Hände vollkommen vergessen zu haben und bewunderte sie stattdessen, als hätte er soeben Edelsteine an seinen Fingerspitzen entdeckt. »Der Boden selbst …«, murmelte er.
»Noch ehe die Ära der Feigheit vergangen war, hatte das Heilige Tal seinen Namen verloren. Und das war ein Glück, denn sonst wäre es zu einer erbärmlichen Flüchtlingskolonie geworden. Die Hälfte der Bevölkerung aller Reiche kam in Schlachten und Massakern um. Die meisten Überlebenden stritten und kämpften miteinander, bis die Länder sich zum Ersten Eid verbündeten. Diejenigen, die dem Bund beitraten und den Eid ablegten, taten das in der Sicherheit des Heiligen Tals. Die Geschichtsschreibung behauptet etwas anderes, doch genau dort wurde der Erste Eid nach der Ratifikation in Decalam besiegelt. Im Lauf der Zeit wurde das Heilige Tal zum Mythos, der gesegnete Boden war vergessen und in den darauf folgenden Zeitaltern nie umkämpft.«
»Und jetzt?«, fragte Tahn.
»Jetzt dringen Kreaturen aus dem Born ungehindert ins Heilige Tal ein, um deiner Schwester das Kind zu entreißen.« Die Worte der Fern hallten in der warmen Felsenkammer nach wie ein Fluch.
»Dann gibt es den Allwillen nicht mehr«, schloss Tahn sofort.
»Unsinn. Der Allwille ist ewig«, stellte Mira leidenschaftslos fest.
»Dann erklär uns, warum die Bar’dyn ein Bachbett entlangstürmen und uns beinahe die Köpfe abschlagen konnten«, erwiderte Sutter hitzig.
»Die Dinge sind im Wandel – zweifellos hat Vendanji euch deshalb aufgesucht. Und das Helligtal ist immer noch gesegnet. Noch nie ist auf dem heiligen Boden Krieg geführt worden, nicht einmal im Zweiten Eidkrieg. Das Helligtal ist den Dienern des Kreateurs schon immer bekannt, und doch haben sie es niemals betreten, bis jetzt. Es hat seinen Zweck erfüllt, seit der Erschaffung des Borns. Und, meine Freunde«, sagte die
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