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Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)

Titel: Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Orullian
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Lieder waren auf ihre Art tröstlich, weil sie sich nicht nur in Trauer und Verbitterung gewälzt haben.«
    »Ihr seid eine aufmerksame Zuhörerin. Seid Ihr wohl gar selbst Musikantin?« Der Mann musterte Wendra von Kopf bis Fuß.
    Da begriff sie, worauf er mit seinen schönen Worten hin auswollte, und bei dem Gedanken drehte es ihr den Magen um. Zum Glück beteiligte sich nun auch die Frau an der Unterhaltung. »Wenn ja, dann vergeudet keinen weiteren Atemzug auf ihn«, sagte sie. »Sprecht lieber mit der Komponistin, und die bin ich.«
    Die Frau schlang sich eine schwere Instrumententasche über die Schulter und blieb neben ihrem Gefährten stehen. »Er heimst nur gern die Lorbeeren ein, wo er sie auch kriegen kann.« Sie warf ihm einen spöttischen, belustigten Blick zu. »Aber er hilft nie mit, die Musik zu erschaffen, die uns diese Anerkennung einbringt. Wie heißt Ihr, junge Dame?«
    »Wendra, und ich bin keine vornehme Dame. Wer seid Ihr?«
    »Ich bin Solaena. Und dies ist Chrastof. Er muss noch packen. Setzen wir uns doch einen Moment, damit ich die Füße ausruhen und mir die Kehle befeuchten kann. Dann erkläre ich dir gern, welchen Rat mein Vater mir gegeben hat.« Sie gab der Kellnerin einen Wink, die aufmerksam, aber müde herüberschaute und dann zur Küche ging.
    Solaena und Wendra setzten sich an einen Tisch, und gleich darauf wurde ein hohes Glas voll dampfendem Tee vor Solaena hingestellt. Sie nippte daran, und die Wärme schien ihr Gesicht zu entspannen. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
    »Du findest es faszinierend, vor so vielen Menschen zu singen und zu spielen«, begann sie. »Eines will ich dir sagen. Wenn du eine andere Möglichkeit findest, dein Brot zu verdienen, dann tu das. Meistens werden wir vom Haus nicht bezahlt, und in einem so großen Wirtshaus wie diesem hier glauben viele Gäste, wir sollten sie nicht nur mit unserem Gesang unterhalten, wenn du verstehst, was ich meine. Behalte das Singen bei, Mädchen, aber mach es dir nicht zum Lebensweg.«
    Wendra nickte dankbar. Aber ihre Fragen waren nicht beruflicher Natur. »Wie machst du das? Die Lieder. Wie schaffst du es, dass man den Kummer fühlen kann, nicht um seiner selbst willen, sondern um Rache zu rechtfertigen?«
    Die Frau lächelte. »Nun, indem ich aus vollem Herzen schreibe. So spät in der Nacht kann ich wohl zugeben, dass ich nicht mehr an die gleichen Dinge glaube wie früher, als ich in deinem Alter war. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Lieder darüber – um mich an damals zu erinnern, als ich noch glauben konnte. Damit meine ich, dass ich mit diesen Liedern meinen innigsten Wünschen Ausdruck verleihe, auch wenn die Welt um mich herum nicht auf meine Worte achtet. Verstehst du?«
    »Ich glaube schon. Aber die Welt hört dir zu. Die Leute hier im Saal. Ich.«
    Ein dankbares Lächeln breitete sich über Solaenas Gesicht. »Du hast ein gutes Herz, Mädchen. Ich danke dir. Und für deine freundlichen Worte will ich dir das Geheimnis verraten – denn ich glaube, das ist es, was dich eigentlich interessiert.« Sie beugte sich über ihren Tee und erklärte ernst: »Wenn du dein trauriges Lied erschaffst, darfst du dich nicht scheuen, bis zum Grund deines Kummers hinabzutauchen. Die Macht dieser Lieder schöpft man aus dem Brunnen der eigenen Pein, und von dort wird auch die Kraft kommen, Linderung zu fordern. Alles andere ist nur ein Klagelied, und ich persönlich finde Gejammer nicht sehr sinnvoll.«
    Die Worte der Frau brachten Wendra eine Erleuchtung, mitten in der Nacht in einem leeren Wirtshaussaal, der nach Bitter stank.
    »Eines noch«, fügte Solaena hinzu. »Diese Lieder müssen nicht immer laut geschmettert werden. Wir tun das, weil wir an so lauten Orten singen.« Sie sah sich im Saal um. »Aber was ich dir gerade erklärt habe, kann einem Schlaflied die gleiche Macht und Bedeutung verleihen. Wenn du daran zweifelst, hör einmal zu, wie eine Mutter dem Kind, das in eine gefährliche Welt hineingeboren wurde, ihre innigste Hoffnung singt.«
    Wendra starrte die Frau an, während Trauer und Offenbarung in ihrer Seele miteinander rangen. Diese nächtliche Lektion, wie man es schaffte, Lieder voller Traurigkeit, Überzeugung und Macht zu singen, würde sie den Rest der Nacht um ihren Schlaf bringen und in vielen zukünftigen Nächten, denn die Worte der Musikantin hatten Wendras größte Angst und ihren tiefsten Kummer berührt. Sie erkannte jetzt, dass die Melodien, die sie in letzter Zeit gefunden hatte,

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