Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
einmal vorgekommen wäre. Allerdings gibt es Geschichten über Prozesse in längst vergangenen Zeitaltern, bei denen ein Regent dem Gerichtshof getrotzt hat.«
Wendra nickte und lehnte sich zurück, um auf die Entscheidung zu warten. Braethen beobachtete alles aufmerksam; Mira stand neben ihrem Stuhl, den sie der Zeugin überlassen hatte. Der Beschwerdeführer und Vendanji, aus deren Gesichtern unterschwellige Verachtung sprach, sahen über die dazwischenliegende Bodenfläche hinweg zur Reihe der Gerichtsräte.
Das Raunen hielt an und wurde mehrfach davon unterbrochen, dass ein selbsternannter Ordner die Versammelten zum Schweigen ermahnte. Die Luft wurde immer stickiger vor Hitze und einer Mischung aus menschlichen Ausdünstungen. Wendra sah sich nach Artixan um, der an der Wand direkt hinter ihr saß. Der Sheson musterte Vendanji genau und blinzelte dann langsam, als ob ihn die Verhandlung gar nicht kümmerte und seine Aufmerksamkeit stattdessen von irgendeiner unausgesprochenen Frage in Anspruch genommen würde.
Plötzlich stand ein Mitglied des Tribunals auf. Die Robe der Frau fiel in langen, tiefen Falten herab. Dann erhoben sich auch die anderen Geschworenen einer nach dem anderen. Als die Urteilsfindung vorüber war, nickte die Regentin, und die Geschworene ganz links hob den Arm und zeigte auf den Tisch der Gerichtsräte. Der Mann neben ihr tat es ihr nach. Nach und nach hob jeder Geschworene einen Arm, so dass der weite Ärmel im tiefen Bogen vom Handgelenk hing. Alle Arme zeigten auf den Ersten Rat und seine Beisitzer. Das Gemurmel der Zuschauer schwoll mit jeder Stimme an: Ein überraschtes, entzücktes oder verunsichertes Aufkeuchen entschlüpfte hunderten von Mündern auf einmal, gefolgt von einer neuen Vielzahl an Spekulationen.
Die Abstimmung ging weiter: Tribunalsmitglieder zeigten auf die würdigen Herren in den feinen schwarzen Gewändern. Die schlichte Strenge ihrer hohlen Wangen wich einem selbstsicheren Ausdruck. Alle Hände bestätigten die Gültigkeit ihres früheren Urteils – alle bis auf die letzte, die sich ruhig auf den Beschwerdeführer richtete. Es kam zu einem Tumult, der sich rasch wieder legte, bevor die Regentin sich gezwungen sehen konnte, ihn zu unterdrücken. Aber der ganze Saal war so erstaunt, dass alle Blicke sich auf die Frau richteten, die zuletzt abgestimmt hatte. Dieses letzte Mitglied des Tribunals sah direkt den Mann mit der sonnengebräunten Haut an, dann Vendanji, Braethen, Mira und das Mädchen. Sie schien es nicht auf Beifall dafür abgesehen zu haben, dass sie für sie abgestimmt hatte, aber Wendra hatte den Eindruck, dass der Frau daran gelegen war, die fünf auch über ihren ausgestreckten Arm hinaus wissen zu lassen, wie entschlossen sie war.
Der Beschwerdeführer nickte anerkennend, obwohl er Stirn und Lippen angewidert und niedergeschlagen verzogen hatte. Ein kleiner Mann trat eilig vor und hielt ein Register hoch, in das er etwas einzutragen begann.
»Verzeihung!«, rief Vendanji mit volltönender Stimme.
Im Höchsten Gericht wurde es sofort still, und der zwergenhafte Schreiber hob seinen Grafitstift aus dem Buch.
Vendanji schob seinen Stuhl zurück und ging um den Tisch herum. Er beachtete weder die Gerichtsräte gegenüber von ihm noch die Geschworenen, die immer noch die Arme erhoben hielten, um anzuzeigen, für wen sie stimmten. Stattdessen ging er mit trotzigem, selbstsicherem Schritt einzig und allein auf die Regentin zu. Er erreichte den Fuß der marmornen Treppe und stellte einen Stiefel auf die unterste Stufe. So stand er da und starrte die Regentin an, die seinen unverwandten Blick eine ganze Weile lang erwiderte. Die beiden schienen miteinander zu ringen.
Als Vendanji zum Sprechen ansetzte, hörte Wendra, wie Artixan hinter ihr unruhig hin und her rutschte. Der alte Willenslenker murmelte irgendetwas in seinen Bart. Wendra konnte es nicht verstehen, aber sein Tonfall war beifällig.
»Regentin Storalaith, ich lade Euch ein, Euch über die Vorgabe dieses Höchsten Gerichts hinwegzusetzen und Euch auf Euer Vorrecht als Regentin zu berufen.« Vendanji senkte die Stimme ein wenig. »Lasst diese Männer frei. Es könnte kein größeres Unrecht geben, als dieses Urteil aufrechtzuerhalten.«
»Sheson«, sagte die Regentin, »ich erweise dem, wofür Euer Emblem steht, noch immer Ehre. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass der Sitz Eures Ordens an meinem Tisch erhalten bleibt. Aber dieses Tribunal ist gerecht. Ich werde nicht zulassen, dass es in
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