Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Vergangenheit hörte Mira ihre eigenen Fragen über den Verlust ihrer Eltern, und sie dachte über das nach, was sie nun tun würde, um ihr Versprechen an das junge Mädchen zu halten. Der Preis war hoch. Aber es war der richtige Preis, und Mira würde nicht zulassen, dass sich Zweifel in ihre Gedanken schlichen.
Sie bedachte die Mutter des Mädchens mit einem zuversichtlichen Blick und umschloss dann Leias tränennasses Gesicht mit den Händen. »Ich glaube, das kann ich, Leia. Du hoffst, und ich beeile mich.« Und damit drückte Mira Mutter und Tochter die Hand und ging, um die anderen einzuholen und abzuwägen, was genau sie würde geben müssen, um Wort zu halten – sowohl dem Sheson und den Helligtalern als auch Leia gegenüber, damit sie ihren Vater nicht verlor.
19
Einstand
D ie Schwärze hielt Tahn fest im Griff, da das Licht, das durch die Zellentür fiel, fahler und weniger grell als sonst war. Nach der Dunkelheit zu urteilen, die in der Zelle herrschte, hätte es jenseits der Mauern von Tahns Gefängnis noch Nacht sein können. Aber er wusste instinktiv, dass ein neuer Tag angebrochen war, und diesen Tag kannte er besser als jeden anderen – den Tag seines Einstands.
Der Hunger bereitete ihm Schmerzen – ihm knurrte vor Entbehrung der Magen, und er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Seine Blutergüsse und Schnittwunden hatten genässt und waren in den Stunden, seit die Wachen Rolen und ihn endlich in Ruhe gelassen hatten, weiter angeschwollen. Schon das Atmen allein ließ seine Rippen schmerzen. Seine Muskeln brannten vor starrer Reglosigkeit. Wenn Tahn versuchte, eine andere Haltung auf dem harten Steinboden einzunehmen, tat es ihm entsetzlich weh, Hände und Beine zu bewegen, wann immer die eisernen Ketten über Schorf und wunde Stellen schrammten. Einen Augenblick lang war Tahn dankbar, dass keine Fliegen in diese Dunkelheit vordrangen. Bei der Vorstellung, sie ständig verscheuchen zu müssen oder sonst zu riskieren, dass sie in seinen Wunden Eier ablegen würden, zuckte er zusammen. Er beschloss, dass dieser tiefe Keller selbst für Aasfresser zu faulig stank.
Ob sie mir heute wohl etwas zu essen bringen?
Tahn hob versuchsweise das Handgelenk mit der Handschelle, bevor er angesichts des Brennens aufgab. Er lag still und lächelte im Dunkeln bei der Erinnerung daran, wie Rolen sich hoch aufgerichtet gegen die Verderbtheit aus dem Mund ihrer Wärter verwahrt hatte. Dieser eine Augenblick des Triumphes hielt ihn warm, wenn ihn Gedanken an Sutter, Wendra oder Braethen überkamen oder wenn die alten Worte, die er in seinen Träumen immer wieder sprach, ihm keinen Trost spendeten.
Er warf einen Blick in Rolens Ecke. Er konnte nichts sehen, aber der Sheson lag dort sicher in den Schatten, und die Vorstellung verschaffte Tahn zumindest ein wenig Trost.
Dann hörte er aus dem Vorhang der Dunkelheit: »Deine Zeit ist gekommen, Tahn. Bereit oder nicht, du überschreitest heute eine Grenze, so sicher, wie die Nacht dem Tage weicht.« Rolen setzte sich auf, und seine Ketten klirrten in der Stille. »Ich werde als Erster Beisteher für dich eintreten, wenn du das möchtest.«
Angesichts des Angebots war Tahn wie betäubt. Er hatte sich damit abgefunden, dass dieser Tag vorübergehen würde, ohne durch ein Ritual oder besondere Feierlichkeit hervorgehoben zu sein. Vor drei Jahren war Balatin gestorben, und schon vor Tagen hatte er jede Hoffnung aufgegeben, dass er Hambley an seiner Seite haben würde. In der endlosen Dunkelheit, seit er hergekommen war, hatte der Wandel begonnen, ihm viel weniger zu bedeuten. Was auch immer jenseits dieses Tages lag, konnte von dort, wo er im Augenblick gefesselt und hungrig saß, nicht viel besser aussehen. In manchen Augenblicken wäre es ihm lieber gewesen, den Bar’dyn ausgeliefert zu sein als dem allmählichen Tod, der ihm, wie er spürte, mithilfe des Schmutzes, der Kälte, des Hungers und der undurchdringlichen Steine in die Knochen kroch.
»Nein«, antwortete Tahn. »Nicht hier. Es hat keinen Sinn, an diesem Ort zu feiern. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es jetzt überhaupt wichtig ist.«
»Es ist immer wichtig, hier vielleicht mehr als irgendwo sonst«, sagte Rolen in leicht tadelndem Tonfall. »Lass nicht zu, dass die Umstände dich dessen berauben, was dir lieb und teuer ist, Tahn. Selbst in Ketten verfügst du noch über die wichtigste Gabe von allen. Das ist es, was der Wandel einen lehren sollte.« Der Sheson seufzte in der Dunkelheit.
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