Das Gift der alten Heimat
zu nehmen. Die Behinderung durch seine Koffer wurde dadurch auf ein erträgliches Maß herabgesetzt. Außerdem war es nach Bochum nicht weit, die Kosten für das Taxi hielten sich also in Grenzen. In solchen Dingen war John Miller es gewöhnt, zu rechnen. Millionäre haben das so an sich.
Als der Mietwagen, nach dem Paul telefoniert hatte, vor dem Haus hupte, machte es Onkel Johann kurz. Er stand mit der ganzen Familie – die Söhne Karl und Willi hatten zu Hause bleiben dürfen – auf der Terrasse, umarmte jeden, als letzten Paul, und sagte: »Macht's gut, Kinder, ich werde oft an euch denken. Ihr seid eine prächtige Familie.«
Ein Arbeiter aus dem Betrieb verlud inzwischen schon die Koffer. Paul schien die Sprache verloren zu haben, er schluckte nur immer wieder. Auch Erna sagte nichts und begann zu weinen, Onkel Johann sah, daß es hier nur noch eines gab – Flucht!
Rasch wandte er sich ab, ging die paar Stufen hinunter und stieg ins Taxi. Erst als das Auto anfuhr, drehte er sein Gesicht noch einmal der Familie zu und winkte. Die vier winkten automatisch zurück. Erna stürzten die Tränen über die Wangen. Paul war bleich und zwang sich zu einem krampfhaften Lächeln. Nur die Jungens waren guter Dinge. Sie dachten an die Zukunft – Karl an seinen achtzehnten, Willi an seinen sechzehnten Geburtstag. Das Taxi fuhr schneller, rollte den Rhein entlang, verschwand. Paul nahm seine Frau in die Arme, sie bettete ihren Kopf an seine Brust. Plötzlich schlug sich Paul mit der flachen Hand an die Stirn, dabei rief er: »Ich Idiot!«
Erna schaute fragend zu ihm auf.
»Das habe ich vergessen!« fuhr er fort.
»Was?« fragte Erna.
»Ihm zu sagen, daß das Werk seinen Namen tragen wird!«
Die Adalbertstraße liegt in Bochum nahe dem großen, ewig in Ruß gebetteten Komplex einer Zeche. Es ist kein schönes Viertel dieser bekannten Industriestadt. In dem hohen, schmalen, dunklen Haus, in dem Emma Kerbel wohnte, gingen deshalb auch nicht die Damen der oberen Schichten ein und aus, nicht die eleganten Gattinnen der Männer, die es zu allen Zeiten verstehen, mit der Wurst nach der Speckseite zu werfen, und denen, wenn sie schon mal mit ihren Firmen in Schwierigkeiten geraten, der Staat helfend unter die Arme greift, während er ungerührt zusieht, wenn kleine Gewerbetreibende den Bach hinuntergehen.
Emma Kerbel hatte es im Leben nie leicht gehabt. Ihre Mutter, eine geborene Müller, hatte in Emmas drittem Jahr das Leben eingebüßt, als ein Lastwagen auf der Straße schleuderte und die schmale Frau an die Hauswand quetschte. Ihr Vater, ein stiller, harter Mann, dem nur die Zunge überfloß, wenn er auf seine Tauben zu sprechen kam, erlag seiner Staublunge und hinterließ das Mädchen Emma, das gerade sechzehn Jahre alt geworden war, schutzlos den Wirren des Lebens.
Emma war damals Schneiderlehrling. Wie sie es, auf sich allein gestellt, schaffte, die Gesellenprüfung zu bestehen, konnte sie sich später eigentlich selber nicht mehr erklären. Unglaubliches Glück im Unglück hatte sie insofern, als der Hausbesitzer nicht einen Stein in der Brust hatte, sondern ein Herz, und sie nicht aus der elterlichen Wohnung warf, so daß sie in der Lage war, sich in den kleinen Räumen ein bescheidenes Atelier einzurichten, wo sie für wenig Geld genauso gut nähte, wie die Kolleginnen in den teuren Werkstätten der Hauptstraßen. Aber sie war ein wenig verwachsen und schämte sich, unter die Menschen zu gehen, die so schön und groß waren, so glücklich und sorgenlos.
Der Brief des unbekannten Onkels aus Amerika hatte ihr eine Zeitlang Auftrieb gegeben. Nun, da das Telegramm eingetroffen war und der Besuch sozusagen vor der Tür stand, erfaßte ein Kribbeln und eine Spannung das verhärmte alte Mädchen, wie es sie in ihrem stillen Leben nie verspürt hatte. Als die Stunde kam, in welcher der Onkel erscheinen sollte, putzte sie das Atelier, räumte die Stoffreste zusammen, schmückte den Küchentisch mit frischen Blumen und kaufte ein Viertelpfund Bohnenkaffee. Dann setzte sie sich ans Fenster und blickte hinab auf die Straße.
Kurz nach der Mittagszeit rollte ein Taxi vor und hielt vor dem dunklen Haus. Emma Kerbel lugte hinunter. Ein großer, dicker Mann stieg aus, bezahlte den Chauffeur, ließ sich sein Gepäck aus dem Kofferraum aushändigen, ging zur Haustür und studierte dann die Namensschilder an der Klingeltafel. Emma sah, wie er die Hand hob.
Es schellte. Sie trippelte zur Wohnungstür, drückte auf den
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