Das Gift der alten Heimat
elektrischen Öffner und hörte dann den Mann mit schweren Schritten die Treppe heraufkommen.
Jetzt hängen sie auf jeder Etage an den Türspionen, dachte sie. Jetzt tuscheln sie, jetzt platzen sie vor Neugier. Sie machte die Tür auf und ging dem dicken Mann ein paar Schritte entgegen.
»Guten Tag, Onkel Johann, herzlich willkommen«, sagte sie leise, als er vor ihr stand und sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Jeden Tag dreimal hier rauf und runter, das würde mich schlank machen.« Johnny Miller lehnte sich schwer atmend an das Treppengeländer. »Guten Tag, liebe Emma …«
Er stutzte, fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Verdammt!« sagte er laut. »Als wenn die Anne vor mir stünde. Deine Mutter sah genauso aus.«
»Komm bitte rein, Onkel Johann.« Emma versuchte ihm einen der Koffer abzunehmen, um ihn in die Wohnung zu schleppen, scheiterte aber am Gewicht. »Die sind aber schwer, meine Güte!«
In der Diele sah Johnny sich um. Die Tapeten waren alt, verblichen, die Möbel einfach, ärmlich fast. Aber sauber war alles, gepflegt trotz der Dürftigkeit. Das berührte ihn angenehm.
»Hier lebst du also?«
Emma Kerbel nickte. »Ja.« Sie bemerkte, daß sie in der Aufregung die Wohnungstür nicht geschlossen hatte, lief hin und holte dies nach. Dabei fuhr sie fort: »Die Schneiderei ist heute schwer und bringt nicht mehr viel. Aber ich bin zufrieden.«
»Zufrieden?« Onkel Johann folgte Emma in die Küche und setzte sich an den sauber gedeckten Tisch mit Blumen. »Gibt es wirklich Menschen, die zufrieden sind?«
»Man muß, Onkel Johann.« Emma schüttete heißes Wasser in die Kaffeekanne und stellte sie auf einen Untersatz. »Woher kanntest du eigentlich meine Adresse?«
Onkel Johann blickte auf. Es war das erste Mal, daß ihn jemand danach fragte. Selbst Paul Müller hatte es nicht getan.
»Als ich vor mehr als dreißig Jahren auswanderte, Emma, warst du gerade acht Jahre alt. Deine Mutter war meine Lieblingsschwester. Die Anne war immer nett zu mir. Wir waren sieben Geschwister, von denen mich vier mehr oder minder ablehnten, weil ich das sogenannte Schwarze Schaf der Familie war. Lange Zeit dachte ich an keinen mehr, der Existenzkampf drüben nahm mich voll in Anspruch. Aber kürzlich, nach zweiunddreißig Jahren, stellte sich heraus, daß auch nach so langer Zeit der Ursprung, von dem man kommt, noch nicht tot ist. So entschloß ich mich, die Verbindung zu dir aufzunehmen, und besorgte mir deine Anschrift. Das ist heute gar nicht so schwierig.«
»Und nun bist du enttäuscht, was?«
»Wieso denn?«
Emma goß ihm die Tasse voll und setzte sich ihm gegenüber.
»Ich habe nie gewußt, daß ich noch einen Onkel in Amerika hatte. Wo wohnst du eigentlich?«
»In Chicago.«
»Nein, ich meine, hier in Bochum.«
»Natürlich bei dir.«
»Bei mir?« Emma errötete ein bißchen und blickte zu Boden. Sie schämte sich. »Das wird nicht gehen«, sagte sie verlegen. »Ich als alleinstehende Frau – mit einem Mann in einer Wohnung … Die Nachbarn würden sich die Mäuler zerreißen.«
»Heutzutage doch nicht mehr!«
»Doch, die hier schon noch! Das sind alles Leute, weißt du, die gern tratschen und einem das Leben schwermachen, besonders wenn man wehrlos ist. Aber« – Emma atmete tief ein und blickte den Onkel entschlossen an – »das soll mir jetzt egal sein! Du kannst bleiben! Die Hoteliers sind ja verrückt, was die heute verlangen. Und wenn mir jemand dumm kommt, werde ich ihm die Meinung sagen. Der wird sich wundern. Am schlimmsten sind ja die Weiber.«
Braves Mädchen, dachte Johann. Sie wird denen – wegen mir – die Meinung sagen. Ganz sicher zum erstenmal in ihrem Leben. Ich könnte ja in ein Hotel gehen, aber ich will nicht – jetzt erst recht nicht! Nur nicht in die Knie gehen vor der Meute. Emma soll eine neue Erfahrung machen, nämlich die, daß es besser ist, den Leuten die Stirn zu zeigen, ihnen zu verdeutlichen, daß man sich nichts aus ihnen macht. Und dabei werde ich ihr helfen. Wenn's nötig sein sollte, mit allen Mitteln.
»Emma«, sagte er, »falls die Nachbarn frech werden, mache ich sie zur Sau.«
Emma, die schon wieder Angst vor ihrer eigenen Courage hatte, erwiderte bang: »Die können sehr eklig werden; solange du da bist, vielleicht nicht – aber dann, wenn du wieder weg sein wirst!«
»Wissen die denn, wer ich bin?«
»Ja.«
»Von wem?«
»Von mir.« Emma erschrak im nachhinein. »Hätte ich niemandem davon etwas sagen sollen?«
»Das ist mir
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