Das Gift der Engel
darauf gebracht? Der Film? Der Chor? Die Musik? Die Verbindung des Orchesterwerkes mit dem Rheintal, das für Albans inneres Auge wie die unendlich scheinenden Hügel dort hinter Remagen aussah?
Die Morde an Dr. Joch und an Dagmar Dennekamp. Die Partitur. Der »Engel von Rom«. Die CD …
Plötzlich wusste er, wozu sie gut war.
Es fehlt nur eine einzige Information, dachte er. Eine Kleinigkeit.
Er musste sie besorgen. Schnellstens.
Es war wieder Ruhe im Saal eingekehrt. Das Orchester wartete auf den Dirigenten. Er betrat die Bühne, um die Schubert-Sinfonie zu dirigieren. Man applaudierte wieder.
Alban nutzte die Gelegenheit.
Er drängte sich durch die Reihe zum Mittelgang und verließ eilig den Saal. Als er die Tür schloss, ertönte drinnen der erste Akkord.
Der Duft nach Freiheit ist lockend und überwältigend.
Entschlossen erhebt er sich, packt das improvisierte Seil in die Hand und zieht ein paarmal daran.
Er lässt es außen an der Fassade hinab. Vergeblich versucht er, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Aber er hört. Sein Gehör ist geschult.
Das Rauschen der Blätter aus dem Wald. Den Wind, der die weite Landschaft streichelt …
Im Haus ist es still. Der Mann ist nicht in der Nähe.
Bevor die Angst wieder aufflackern kann, tut er genau das, was er sich so intensiv vorgestellt hat. Er steigt auf die Fensterbank und dreht dem schwarz gähnenden Abgrund hinter ihm den Rücken zu.
In den zusammengebundenen Kleidungsstücken knirscht es, aber sie halten.
Wie weit geht es hinter ihm in die Tiefe? Sieben Meter mindestens. Vielleicht zehn oder sogar zwölf.
Die Kälte streicht ihm über den Rücken. Er ist nass geschwitzt vor Aufregung.
Er atmet tief durch.
Entschlossen setzt er einen Fuß hinter den anderen.
Stück für Stück wandert er an der Fassade hinunter.
22
Alban eilte die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf, machte Licht und setzte sich an den Computer. Während der PC hochfuhr, fiel ihm auf, dass er seinen Mantel noch gar nicht ausgezogen hatte. Er streifte ihn ab und warf ihn auf den Sessel.
Neben der Tür bewegte sich etwas. Es war Zerberus, der langsam hereinspazierte, die Pfote auf das Sesselkissen legte und an Albans Mantel schnupperte. Offenbar war er nicht damit einverstanden, dass sein Platz besetzt war.
Alban sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun.
Er griff zum Telefon und rief die Auskunft an. Dort fragte er nach der Nummer von Professor Gräber und ließ sich gleich verbinden.
Eine Frauenstimme meldete sich.
»Guten Abend, Frau Professor. Hier ist Alban. Wäre es möglich, den Herrn Gemahl zu sprechen?«
»Guten Abend, Herr Alban.« Frau Gräber besaß unüberhörbar österreichischen Akzent. Es hieß, sie stamme aus Graz und sei früher Opernsängerin gewesen. »Ich werde schauen, ob ich ihn stören kann. Warten Sie bitte einen Moment.«
Nach einiger Zeit, die Alban wie eine Ewigkeit vorkam, meldete sich der Professor.
»Guten Abend, Herr …«
»Alban.«
»Herr Alban. Haben Sie mit Herrn Jung sprechen können?«
»Oh ja. Eine faszinierende Sache, an der der junge Mann da arbeitet … Und er hat auch einiges herausbekommen.«
Unter normalen Umständen hätte Alban jetzt noch eine ganze Weile Small Talk gemacht, aber nun übermannte ihn die Ungeduld.
»Herr Professor, ich habe eine drängende Frage. Kennen Sie einen Musikwissenschaftler namens Alessandro Bernardi?«
»Bernardi, Bernardi … der Name sagt mir was, aber …«
»Er wohnt hier in der Gegend. Er ist ein Bekannter von Dr. Joch. Sie wissen ja – von dem ich die Arienpartitur bekommen habe …«
»Ganz recht, Herr … Man sollte immer mehrere Kollegen konsultieren, um ein vernünftiges Ergebnis zu bekommen. Aber wenn Sie wissen, wo er wohnt, warum fragen Sie ihn denn nicht einfach selbst? Warum rufen Sie ihn nicht an?«
»Er ist sehr schwer zu erreichen, und ich habe seine Adresse nicht. Sagen Sie, gehört er vielleicht zum Lehrkörper der Universität?«
»Nein, bestimmt nicht. Das Beste wäre, sich in einem Nachschlagewerk zu informieren – zum Beispiel im Deutschen Gelehrtenkalender.«
»Vielen Dank für den Hinweis.« Alban verabschiedete sich eilig.
Den Gelehrtenkalender – ein Verzeichnis, das Angaben zu allen Universitätsprofessoren in Deutschland enthielt – kannte er, aber er besaß ihn nicht. Bleibt eben doch nur das Internet, dachte er.
Er startete ein Suchprogramm und gab Alessandro Bernardi ein – in Anführungsstrichen, wie es ihm Simone gezeigt
Weitere Kostenlose Bücher