Das Gift der Engel
wurde, ist noch am Leben. Er ist auf geheimnisvolle Weise ins Rheinland gekommen, und Dagmar Dennekamp verliebte sich in ihn. Und er lebt unerkannt irgendwo hier in der Gegend, sozusagen mit einer neuen Identität …«
Alban seufzte. »Du solltest Romane schreiben, Simone.«
Er spürte, wie er plötzlich die Fassung verlor. Das Gefühl war nicht zu kontrollieren. Es war, als würde ihn irgendetwas innerlich auseinanderreißen. Er ließ sich in den Sessel fallen, in dem sonst immer Zerberus lag. Der Kater hatte wieder seinen Platz auf der Fensterbank eingenommen.
»Was ist los?«, fragte Simone.
Er drückte die Hand auf die Brust. Ja, was war los? Er hatte das Gefühl, nicht mehr frei atmen zu können. Ein Herzinfarkt? Stollmann hatte ihn immer davor gewarnt.
»Mir ist auf einmal etwas flau«, sagte er. »Ist gleich vorbei.«
»Das hat dich alles ziemlich angestrengt. Du musst dich ausruhen.«
Alban atmete schwer. »Weißt du, ich habe Zimmermann geglaubt, dass er Joch nicht umgebracht hat. Ich war sicher. Und als er mir dann den Brief schrieb … Ich habe dafür die Verantwortung übernommen, dass er freikommt.«
»Aber so darfst du nicht denken. Das kann keiner von dir verlangen.«
Alban nickte. Sie hatte ja recht. Er ärgerte sich, dass er sich so gehen ließ. Er atmete ein paarmal tief durch. Langsam spürte er Erleichterung.
Simone sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muss mich fertig machen. Ich will ja noch ins Kino. Weißt du was? Komm doch mit. Es ist ein musikalischer Film. Vielleicht interessiert er dich auch.«
»So was wie ›Amadeus‹?«, fragte Alban, der den berühmten Mozart-Film zwar ganz amüsant, aber nicht wirklich gut gefunden hatte.
»›Die Kinder des Monsieur Mathieu‹«, sagte Simone. »Da geht es um einen Lehrer in einem Waisenhaus, der mit schwer erziehbaren Schülern einen Chor gründet …«
»Und sie dadurch bessert … Jaja, die geheime Macht der Musik. Kitsch.« Er stand auf. Seine Übelkeit war zwar noch nicht ganz vorüber, aber er wollte sich zusammenreißen. »Noch ein Chor. Damit sind wir ja wieder beim Thema.«
»Wenn du lästern kannst, dann geht es dir wohl wieder gut?«
»Ich habe gerade entschieden, dass ich heute Abend mal wieder ins Konzert gehen könnte.« Der Gedanke war ihm schon durch den Kopf gegangen, als er mit dem Büro des Beethovenorchesters telefoniert hatte.
»Wenn dich das beruhigt.«
»Du klingst wie eine Psychotherapeutin. Wie spät ist es? Kurz nach sechs. Genau die richtige Zeit.« Er ging zum Schreibtisch und wählte erneut die Nummer des Orchesters.
»Sind Sie mit Ihrem Italiener weitergekommen, Herr Alban?«
»Leider nicht. Aber das macht nichts. Es hat sich wohl sowieso alles in Rauch aufgelöst.«
»Schade. Und ich dachte, Sie würden mir vielleicht eines Tages eine spannende Geschichte erzählen.«
»Das kann ich ohnehin tun«, sagte er. »Sie werden staunen, was für spannende Geschichten das Leben schreibt.«
Alban bestellte eine Karte für heute Abend und legte auf. Simone hatte sich zurückgezogen. Er nahm das Jahresprogramm der Konzerte und suchte das heutige Datum. Ein schönes klassisches Programm wartete auf ihn. Die Ouvertüre »Die Hebriden« von Mendelssohn, die dritte Sinfonie von Schubert und die Nummer 102 von Haydn.
Der Mann ist fort. Irgendwo im Haus hält sich Luisa auf, aber sie wird sich nicht um ihn kümmern. Sie bewohnt ein eigenes kleines Apartment, wo sie ihre Freizeit meist mit Lesen verbringt. Ganz selten lässt sie den Fernseher laufen. Der Junge hat noch nie verstanden, warum. Luisa lebt in einer Welt der Stille. Sie kann den Vorgängen auf dem Bildschirm kaum folgen.
Das Zimmer des Jungen ist nur durch die kleine Lampe beleuchtet, die auf dem kleinen Tisch am Fenster steht. Sie spiegelt sich in der schwarzen Scheibe.
Auf dem Bett liegen die zusammengebundenen Wäschestücke.
Jetzt oder nie. Er muss es wagen.
Er geht zum Tisch und löscht das Licht. Dann wartet er geduldig, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.
Er öffnet das Fenster. Die Nachtluft bringt den Geruch von Erde und Laub herein. Das Aroma einer unendlichen Nacht. Einer unendlichen Welt.
Der Geruch der Freiheit.
Wo soll er das improvisierte Seil befestigen? Am Tisch? Nein, der ist zu leicht. Der Heizkörper unter dem Fenster ist besser.
Die Kleidungsstücke sind dick. Die Rohre der Heizung verlaufen eng an der Wand. Er muss kämpfen, um die zusammengedrehte Hose dahinter durchzuschieben.
Der Junge hält
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