Das Gift der Engel
Arbeiten, sagte er sich. Du musst arbeiten.
Alban ging hinüber zum CD-Stapel und sortierte ihn in drei Abteilungen: gar nicht erst anhören, vielleicht anhören und auf jeden Fall anhören. Auf dem Stapel, den er sich vornehmen musste, lagen mindestens zwanzig CDs, und er überlegte, mit welcher er beginnen sollte.
Um halb zwei ging Alban nach unten, um sich ein Brot zu machen. Kaum hatte er damit begonnen, kam Simone nach Hause. Sie sah abgearbeitet aus; ihre grüne Hose war schmutzig.
»Ich werd erst mal duschen, bevor ich was esse«, sagte sie.
Alban hatte keine Lust, wieder nach oben zu gehen. Bis sie frisch duftend in Jeans und Pulli in die Küche kam, hatte er den Tisch gedeckt – mit Brot, Butter, Aufschnitt.
Simone setzte heißes Wasser auf. »Ich mache mir noch einen Tee.«
Als sie gemeinsam am Tisch saßen, rückte Alban damit heraus, was er erfahren hatte. Simone blieb der Mund offen stehen.
»Das darf doch nicht wahr sein. Meine Güte, Nikolaus, das ist ja eine Spur. Und was für eine!«
»Glaubst du wirklich?«
»Natürlich!«
»Aber wir wandern von einem Fall zum nächsten. Immer wenn wir etwas Kriminelles entdecken, vermuten wir einen Zusammenhang. Und jetzt ist es schon wieder anders, als wir dachten. Wir haben geglaubt, dass Dagmar Dennekamp einen Geliebten hatte, mit dem sie da oben spazieren ging. Und wenn dieser Dichterin nicht die Metaphern durchgegangen sind, stammt er aus Italien. Und nun die Sache mit dem Kinderchor. Haben die Kinder etwas damit zu tun?«
»Wann war der Chor hier?«
»Vor elf Jahren.«
»Wie alt waren die Kinder in dem Chor?«
»Normalerweise sind sie noch nicht im Stimmbruch. Also zwischen sieben und zwölf.«
»Aber Nikolaus, das ist doch alles sonnenklar. Nehmen wir an, Dagmar Dennekamp hatte kurz vor ihrem Tod einen Freund, der als Kind in diesem Chor war. Als sie ermordet wurde, war er elf Jahre älter. Also zwischen achtzehn und dreiundzwanzig. Das passt.«
»Und die Entführung?«
»Die muss ja nicht unbedingt etwas damit zu tun haben. Es reicht, wenn irgendjemand aus dem Chor später wieder ins Rheinland kam. Zum Beispiel um hier zu studieren. Vielleicht Gesang. An der Hochschule in Köln zum Beispiel. Frag doch mal die Schwester von Frau Bertram.«
»Trotzdem. Dass wir da wieder auf ein Verbrechen stoßen, ist schon merkwürdig.«
»Was ist denn aus dem Jungen geworden?«
»Wahrscheinlich ist er tot.«
»Weißt du, wie er hieß?«
»Nein.«
Simone wiegte unruhig den Kopf. »Wir sollten uns mehr Fakten beschaffen. Hast du schon mal im Internet nachgeschaut?«
Alban wollte nicht zugeben, dass er daran noch nicht gedacht hatte. »Meinst du, das bringt uns weiter?«
»Versuchen wir’s.«
Das Wörterbuch in der Hand, gab Alban Simone Stichwörter für die Suchmaschine vor.
»Entführung heißt rapimento «, sagte er. »Kombiniere das doch mal mit ›Coro San Lorenzo‹ …«
Nach längerem Suchen fand Simone ein paar Artikel und druckte sie aus. Alban konzentrierte sich auf die Texte, wobei er immer wieder Vokabeln nachschlug.
»Der Junge hieß Domenico und wurde auf einem Autobahnrastplatz entführt. Offenbar war der Chor gerade auf dem Weg nach Trier. Der Fall ist aber geklärt. Sie haben den Täter verurteilt. Er hat insgesamt vier kleine Jungen ermordet. Ihre Leichen hat er …« Alban blätterte, und es dauerte eine Weile, bis er das Wort gefunden hatte. »Er hat sie in einer Kiesgrube in der Nähe von Mailand versteckt.«
»Und wie hat er den Jungen vom Rastplatz in Deutschland nach Italien gebracht?«
Alban schüttelte den Kopf. »Das steht hier nicht. Wahrscheinlich hat er ihn einfach ins Auto gezerrt und ist weggefahren. Vielleicht hatte er ja einen Transporter.«
»Wurden die anderen Kinder auch in Deutschland entführt?«
Alban runzelte die Stirn. »Nein, aber eins in Österreich, soweit ich das hier verstehe. Der Täter war aber Italiener. Ach, und hier steht noch was Interessantes. Man hat die Leichen der Kinder nie gefunden. Sie haben diese Kiesgrube wochenlang durchsucht. Ohne Ergebnis.«
»Dann ist das so eine ähnliche Sache wie im Fall des kleinen Pascal«, sagte Simone. »Erinnerst du dich?«
Alban nickte. Diese Geschichte hatte die ganze Nation erschüttert.
»Das führt zu nichts«, sagte er. »Wir kommen so nicht weiter. Dass der Italiener, den wir suchen, aus dem Chor stammt, ist ja möglich. Dass es die Entführung gegeben hat, kann wirklich Zufall sein.«
»Oder der Junge, dessen Leiche ja nicht gefunden
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