Das Gift der Engel
werden, muss vielleicht andere erpressen …« Joch schwieg nachdenklich. Dann sagte er: »Warum haben Sie nicht schon zu Lebzeiten meines Bruders damit begonnen, etwas über diese Noten herauszufinden?«
Wieder musste Alban lügen. »Wie das so geht. Ich habe mir das Stück natürlich gleich angesehen und Ihrem Bruder auch gesagt, was ich davon halte.«
»Und was haben Sie gesagt?«
»Es sei musikalisch ganz interessant.«
»Ist es ein Lied?«
»Es ist eine Opernarie. Es könnte sein, dass es sich um einen Teil einer großen Opernpartitur handelt.«
»Das haben Sie also meinem Bruder gesagt. Und was ist dann passiert?«
»Erst mal nichts«, führte Alban seine Geschichte weiter. »Ihr Bruder war eine Weile nicht zu erreichen. Offensichtlich ist er ab und zu auf Reisen gewesen. Und bevor ich ihn dann im Konzert treffen konnte, habe ich von seinem Tod erfahren.«
Joch sagte nichts, und Alban ergriff die Gelegenheit, das Gespräch wieder auf den Ausgangspunkt zurückzulenken.
»Um es kurz zusammenzufassen: Sie kennen also niemanden aus dem Bekanntenkreis Ihres Bruders?«
»So ist es.«
Alban steckte die Partitur zurück in die Mappe. »Dann hat es wohl keinen Sinn, Sie weiter zu stören.«
»Einen Moment«, sagte Joch. »So einfach geht das nicht. Warten Sie.« Er stand auf und verließ den Raum.
Alban blieb sitzen. Was war jetzt los? Er wartete und starrte dabei auf den Vorgarten mit dem beschnittenen Lorbeerbusch hinaus. Es war plötzlich still im Haus. Die Kinder schienen nicht mehr im Wohnzimmer zu spielen. Als Joch nach geraumer Zeit zurückkam, hielt er ein Blatt Papier in der Hand.
»Unterschreiben Sie das.«
Alban studierte den Text. »BESTÄTIGUNG« stand in großen Buchstaben ganz oben, dann folgte getippter Text, sauber ausgedruckt. Joch hielt Alban einen Stift hin.
Es war eine Art Vertrag. Joch ließ Alban bestätigen, dass er ihm die Partitur auslieh – und zwar für eine Woche, vom heutigen Datum an gerechnet. Im letzten Absatz verpflichtete sich Alban, Joch zehntausend Euro zu zahlen, wenn er die Originalhandschrift verlieren sollte.
»Was soll das?«, fragte Alban.
»Gehörte die Partitur nun meinem Bruder oder nicht?«
»Ja schon, aber …«
»Er hat sie Ihnen nicht geschenkt. Und Sie haben eben noch gesagt, ich könne sie gern haben. Damit ist doch alles klar. Unterschreiben Sie. Dann können Sie das Manuskript mitnehmen und eine Weile weiterforschen. Sie haften dann dafür. Wenn nicht – lassen Sie das Heft einfach hier. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«
Alban sah sich das Schriftstück etwas genauer an. Hinter dem Wort »Partitur« war etwas Platz gelassen. »Wollen Sie hier noch etwas eintragen?«, fragte er.
»Die Bezeichnung des Manuskriptes«, sagte Joch.
Alban holte die Noten hervor, schrieb »Arie, handschriftlich« hin.
»Bitte notieren Sie dort unten noch Ihre Anschrift und Ihre Telefonnummer.« Alban trug die Daten gehorsam ein. So ein Unsinn, dachte er. Eigentlich brauchte er sich gar nicht darauf einzulassen – schließlich hatte er die Arie mehrmals fotokopiert.
»Und jetzt bräuchte ich noch Ihren Personalausweis.«
Alban zögerte, griff dann aber doch schweigend in seine Sakkotasche und sah zu, wie Joch die Angaben miteinander verglich.
»Danke«, sagte Joch und gab das Kärtchen zurück. »Es muss eben alles seine Ordnung haben. Darf ich Sie jetzt noch mal bitten?«
Alban unterdrückte ein Seufzen, als er seinen Namen unter das Schriftstück setzte. Sollte dieser Buchhalter seinen Willen haben.
Während er der Autobahn in Richtung Mainz folgte, tauchte vor seinem inneren Auge eine Szenerie in einer Kirche auf. Lea hinter dem schwarzen, glänzenden Flügel. Gedämpftes Licht. Kaskaden von Klavierklängen, die sich in dem weiten Raum der Kirche brachen …
Vor Jahren war er mit Lea in Eltville gewesen. Damals hatte sie hier einen Klavierabend gegeben. Alban hätte gar nicht mehr sagen können, wo genau er stattgefunden hatte. Eine weitere vage Erinnerung huschte vorbei. Ein Beisammensein in einer Weinstube – nach dem Konzert, mit Besuchern und Veranstaltern …
Die Klinik am Nonnenberg lag in einem kleinen Tal abseits der Stadt. Tausende von sauber in Reih und Glied stehenden bräunlichen Nadeln bedeckten die Hänge – herbstliche Weinreben. Die Straße führte am Taleingang unter einer weitgespannten Brücke hindurch. »Nach zweihundert Metern nach links abbiegen«, sagte die Frauenstimme, und als Alban die Abzweigung erreichte, wies ein
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