Das Gift der Engel
jetzt gar nichts.«
»Normalerweise steht ein Komponistenname auf einer solchen Partitur. Hier ist aber nur eine Abkürzung zu lesen. Ein großes O oder ein D. Ich wüsste gern, wer sich dahinter verbirgt.«
»Sind Sie Musiker?«
»Ich bin Musikjournalist. Klassische Musik ist mein Fachgebiet.«
»Ich kann Ihnen da nichts sagen. Wir hatten keinen sehr engen Kontakt zu Wolfgang.«
»Darf ich denn hier auf Ihren Mann warten?«
»Natürlich, kein Problem.«
Alban verstaute die Partitur wieder in der Mappe. Frau Joch blieb stehen.
»Ist das vielleicht was Bedeutendes, das Sie da haben? Ich meine, ist die Partitur viel Geld wert?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Hat Ihnen Wolfgang die Noten geschenkt? Oder hat er sie Ihnen nur geliehen?« Sie sah Alban prüfend an. Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Garantiert wussten die Jochs, dass es einen Verdächtigen gab, der jetzt in U-Haft saß. Wie würden sie reagieren, wenn sie erfuhren, dass Alban gerade von diesem Verdächtigen die Partitur bekommen hatte?
Besser war es zu behaupten, dass Joch ihm die Partitur direkt gegeben hatte. Eine kleine Lüge, die aber sicher nicht auffliegen würde, wenn Sebastian Joch wirklich kaum Kontakt zu seinem Bruder gehabt hatte.
Ein Wagen fuhr heran, eine Autotür klappte, und Alban hörte Kinderstimmen. Ein Junge und ein Mädchen, beide hellblond, kamen so schnell herangestürmt, dass die Katze erschreckt ins Haus lief.
Es folgte ein hochgewachsener Mann. Dichtes graues Haar, ein kurz gehaltener stachliger Vollbart in derselben Farbe. Eine Brille mit Messingfassung. Alban versuchte sich zu erinnern, wie Wolfgang Joch ausgesehen hatte. Der war ein dicker kleiner Glatzkopf gewesen. Zwischen den Brüdern gab es keine Ähnlichkeit.
»Da sind wir wieder«, sagte Sebastian Joch mit rauer Bassstimme.
»Habt ihr alles gekriegt?«, fragte seine Frau, und er nickte, allerdings ohne den misstrauischen Blick von Alban zu lösen. Offenbar geisterten durch seinen Kopf ebenfalls Gedanken an einen Vertreter oder ein missionseifriges Sektenmitglied.
»Guten Tag, Herr Joch«, sagte Alban und stellte sich vor.
»Er kommt wegen Wolfgang«, sagte die Frau.
Sebastian Joch nickte kurz. »Sind Sie von der Polizei? Die ist doch schon hier gewesen.«
»Nein, nein«, wehrte Alban ab. »Ich bin … Privatmann. Zunächst mal mein herzliches Beileid.«
Alban streckte dem Bruder die Hand hin. Ein lascher Händedruck. »Danke.«
»Ich habe Ihren Bruder gekannt. Ich bin Musikkritiker und habe ihn ab und an im Konzert getroffen. Er hat mir vor einiger Zeit etwas gegeben, das mich beruflich interessiert. Es sind Noten.«
»Noten?«, wiederholte Sebastian Joch ungläubig.
»Musiknoten. Eine Handschrift. Nichts Altes, wie Sie jetzt vielleicht vermuten. Aber trotzdem ein ganz interessantes Stück, dessen Komponist leider auf dem Manuskript nicht angegeben ist. Und ich bin jetzt dabei, herauszufinden, von wem es stammt.«
Sebastian Joch sah Alban immer noch misstrauisch an.
»Könnte ich vielleicht zehn Minuten mit Ihnen sprechen?«, bat Alban.
»Ich verstehe nichts von Musik.«
»Darum geht es auch gar nicht. Vielleicht können Sie mir trotzdem helfen.«
Sebastian Joch ließ wieder eine Pause entstehen, nickte und wirkte, als müsse er nachdenken. Seine Frau hatte sich wieder der Gartenarbeit zugewandt.
Schließlich wies er auf die offene Haustür. Alban konnte durch den Flur bis zur hinteren Terrassentür sehen. Dort tapsten die beiden Geschwister zwischen buntem Spielzeug herum.
»Lassen wir die Kinder im Wohnzimmer spielen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, in der Küche Platz zu nehmen.«
»Natürlich nicht«, sagte Alban und bog nach links ab. Eine Einbauküche. Am Fenster stand ein Tisch. Alban nahm Platz. Hinter der Scheibe war Jochs Frau im Vorgarten zu sehen.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Alban lehnte höflich ab, und Joch setzte sich ihm gegenüber. Im Hintergrund schrien die Kinder. Alban legte die Partitur auf den Tisch. Die Reaktion war wie bei der Frau. Distanziertes Interesse. Kein Verständnis.
Kein Wunder, dachte Alban. Wenn ich mit einem Bild oder einem Buch gekommen wäre, hätte der Mann etwas zu sehen oder zu lesen gehabt. Noten ergeben für Laien keinen Sinn.
»Wie gesagt, ich verstehe nichts von klassischer Musik. Ich weiß aber, dass mein Bruder vollkommen besessen davon war.«
»Und Sie haben andere Interessen?«, fragte Alban.
»Diese Art von Musik ist etwas für Leute, die es sich leisten
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