Das Gift der Engel
gekleidete Sekretärin.
»Das ist Herr Alban«, erklärte die junge Frau. »Er ist Privatpatient.« Sie schloss die Tür und verschwand.
Die Sekretärin stand auf und gab Alban die Hand. »Es tut mir leid, dass Sie noch ein paar Minuten warten müssen. Herr Dr. Eisenmenger wird gleich für Sie Zeit haben. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?«
»Danke, nein«, wehrte Alban ab. Gerade wollte er auf einem der Besucherstühle Platz nehmen, da öffnete sich eine Tür, und ein großer, breitschultriger Mann im weißen Kittel kam herein. Die Haare fielen ihm bis auf die Schultern, und sie begannen mit dem Kittel synchron nach hinten zu wehen, als er auf Alban mit einer solchen Vehemenz zukam, als würde er einen alten Bekannten begrüßen.
Alban stellte sich vor. »Eisenmenger mein Name«, rief der Chefarzt daraufhin mit voller Stimme.
Er wurde in das Büro des Arztes geschoben – ein Raum mit dunkler Schrankwand auf der einen Seite und breiter Fensterfront auf der anderen. Der Blick ging hinaus auf die Hügel der Rheinlandschaft.
»Nehmen Sie doch bitte Platz«, dröhnte Eisenmenger. Alban ließ sich in einem der bequemsten Besucherstühle nieder, die er bisher im Sprechzimmer eines Arztes angetroffen hatte; der Chefarzt setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
»Sie haben keine Unterlagen mitgebracht, sagte meine Mitarbeiterin?«
»Das ist richtig, weil …«
»Nicht schlimm.« Der Arzt zog einen Notizblock zu sich heran. »Sie müssen nur gleich an der Anmeldung noch einen Fragebogen ausfüllen. Wie alt sind Sie?«
»Ich bin dreiundfünfzig, allerdings …«
»Haben Sie schon mal Beschwerden an der Prostata gehabt?« Er sah Alban ernst an. »Ich hoffe, Sie haben wenigstens bereits entsprechende Untersuchungen machen lassen. In Ihrem Alter …«
»Herr Dr. Eisenmenger, ich bin nicht wegen einer Untersuchung hier.«
Der Arzt runzelte die Stirn. »Nicht?«
»Das war ein Missverständnis. Es geht um etwas anderes.«
Dr. Eisenmenger legte den Stift hin, lehnte sich in seinem Sessel zurück und fixierte Alban streng. »Sie sind kein Patient?«
»Ich bin hier, weil ich Sie etwas wegen eines früheren Mitarbeiters fragen möchte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es geht um einen Bekannten von mir, der hier bis vor etwa zehn Jahren gearbeitet hat. Sagt Ihnen der Name Wolfgang Joch etwas?«
»Joch? Es geht um Dr. Wolfgang Joch?«, rief der Arzt.
»Soweit ich weiß, hatte er früher Ihre Position inne. Wie Sie vielleicht wissen, lebte er in den letzten Jahren in Bonn. Dort wurde er tot aufgefunden – erschlagen. Man hat bereits einen Verdächtigen festgenommen, und …«
»Sind Sie von der Polizei?« Die Stimme des Arztes war um einiges leiser geworden.
»Nein. Ich habe Herrn Joch flüchtig gekannt und bin vor seinem Tod in den Besitz einer Partitur gekommen.«
»Einer Partitur?«
»Noten«, erklärte Alban, und wieder begann dasselbe Spiel wie bei Jochs Bruder. Alban holte das Manuskript aus der Mappe, stellte die Sache der Einfachheit halber wieder so hin, als sei er über Joch selbst an die Arie gekommen, und beobachtete, wie Dr. Eisenmenger die Seiten aufmerksam umblätterte.
»Als Kind hatte ich mal Geigenunterricht«, sagte der Arzt. »Leider hat es gerade bis zu einem Vivaldi-Konzert gereicht.«
»A-Moll. Opus 3 Nr. 6«, sagte Alban.
Dr. Eisenmenger blickte erstaunt auf. »Woher wissen Sie das?«
»Jeder spielt es. Es ist eines von den leichteren.« Alban erklärte, dass er Musikkritiker war und selbst Violine studiert hatte.
Dr. Eisenmenger dachte einen Moment nach. Dann begann er das markante Thema des Konzerts vor sich hin zu singen. Nach einigen Tönen wusste er offenbar nicht weiter und verstummte. »Eigenartig. So lange habe ich nicht mehr an dieses Stück gedacht, und jetzt fällt es mir wieder ein. Ich würde es gern mal wieder hören. Oder sogar spielen. Aber es ist so lange her, dass ich die Geige angefasst habe …«
»Geben Sie sich einen Ruck und versuchen Sie es. Zum Hören empfehle ich Ihnen die Einspielung von Fabio Biondi mit dem Ensemble Europa Galante. Da kriegen Sie das Stück so flott geboten, wie Sie es sicher nie gehört haben.« Alban buchstabierte die Namen des Geigers und des Ensembles.
»Geht Ihnen der Tod von Herrn Joch nicht nahe?«, fragte er dann. »Ich hätte erwartet, dass Sie vielleicht ein kollegiales Verhältnis zu ihm hatten.«
Dr. Eisenmenger schüttelte den Kopf. »Als Herr Joch sich damals zur Ruhe setzte, war ich nicht mal einen Monat
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