Das Gift der Engel
können, ihren nostalgischen Gefühlen nachzuhängen. Und die gern mit so etwas angeben. Nichts für normale Menschen.«
»Sind Sie auch Arzt?«
»Die Hochschulausbildung war meinem Bruder vorbehalten. Ich arbeite in Koblenz bei der Kreisverwaltung.«
Irrte sich Alban, oder klang da Bitterkeit durch?
»Ihre Frau deutete an, dass Sie wenig Kontakt zu Ihrem Bruder hatten.«
»Ich habe ihn auf meinem fünfzigsten Geburtstag das letzte Mal gesehen. Im Mai.«
»Die Polizei hat ja jemanden verhaftet. Man hält ihn für verdächtig …«
Joch warf Alban einen kalten Blick zu. »Verdächtig? Was heißt hier verdächtig? Natürlich war er es. Ich weiß nicht, wie gut Sie meinen Bruder kannten, Herr Alban …« Sein Blick blieb an Albans rechter Hand hängen. Was hatte das jetzt zu bedeuten?
»Sind Sie verheiratet?«, fragte er plötzlich. Alban stutzte einen Moment, dann ging ihm ein Licht auf. Er trug an seiner rechten Hand noch immer seinen Ehering.
»Verwitwet«, sagte Alban. »Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben.«
»Wenn Sie meinen Bruder kannten, dann wissen Sie ja, in welchen Kreisen er verkehrte.«
Alban schwieg. Er hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion über Homosexualität einzulassen. Vor allem nicht mit jemandem, der offensichtlich intolerant war. Dafür redete Joch weiter.
»Ist es denn nicht sonnenklar, dass dieser Kriminelle meinen Bruder ermordet hat? Und er hat Wolfgang dazu gebracht, dass der auch noch sein Testament ändert … Ohne daran zu denken, dass er einen Neffen und eine Nichte hat.« Joch schüttelte den Kopf. »Aber das wird sich alles regeln, wenn der Mörder verurteilt wird. Dann ist das Testament ja hinfällig.«
Die Kinder johlten im Wohnzimmer, und Alban sah, dass Jochs Frau an der Küchentür vorbeikam. Er beschloss, zum eigentlichen Thema zurückzukehren.
»Sie haben also keine Idee, woher Ihr Bruder die Noten gehabt haben könnte?«
Joch blätterte die erste Seite auf, löste seinen Blick aber gleich wieder von dem Papier und sah Alban an.
»Hat er Ihnen die Noten geschenkt, oder hat er sie Ihnen nur gegeben, damit Sie sie für ihn überprüfen?«
Die gleiche Frage, die auch schon seine Frau gestellt hatte. Alban holte Luft. »Herr Joch, ich kann Ihnen versichern, dass ich kein Interesse habe, mir die Noten widerrechtlich anzueignen. Sie können Sie gern haben. Aber Sie werden auch weiter nichts damit anfangen können. Es handelt sich meines Wissens nicht um etwas Wertvolles. Nicht in materieller Hinsicht.«
»Wissen Sie das genau?«
»Ich habe bereits einen Bonner Musikwissenschaftler aufgesucht. Er war dieser Meinung.«
»Warum interessieren Sie sich dann dafür? Haben Sie nichts Besseres zu tun?«
Alban suchte nach Worten. Wie sollte er diesem Ignoranten klarmachen, dass ihn das Stück berührte, dass es ihn faszinierte – und das auf eine Art, die kaum in Worte zu fassen war?
»Vielleicht steckt ja doch mehr darin«, sagte er.
In Jochs Augen trat etwas Gieriges, als er seinen Blick wieder über das Papier schweifen ließ.
Alban klärte ihn über eine seiner Vermutungen auf – dass jemand ein Stück in einer Bibliothek abgeschrieben hatte. »Wenn wir dem Original auf die Spur kommen, geraten wir vielleicht an einen aufsehenerregenden Fund. Aber auch nur vielleicht.«
»Was hat mein Bruder denn gesagt, als er Ihnen die Noten gab?«
»Nichts.«
»Nichts? Bei welcher Gelegenheit war es denn? Hat er sie mit ins Konzert gebracht? Hat er Sie zu Hause besucht?«
Alban stutzte. »Warum wollen Sie das so genau wissen?«, versuchte er abzuwiegeln. »Ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern. Soweit ich weiß, hat er mir in einer Konzertpause davon erzählt. Er fragte mich, ob ich mir das Manuskript mal ansehen würde. Ich zeigte Interesse …«
»Und Sie haben ihn nie gefragt, wo er die Noten herhat? Fragt man das denn nicht als Erstes?«
Joch ließ seine grauen Augen auf Alban ruhen, dem plötzlich ein rettender Gedanke kam.
»Ich hatte den Eindruck, dass er die Partitur auf nicht ganz geraden Wegen erhalten hatte.«
»Das heißt, er hat es Ihnen nicht sagen wollen?«
»So kam es mir vor.«
»Das sieht meinem Bruder ähnlich«, murmelte Joch.
»Wie darf ich das verstehen?«
»Herr Alban, ich glaube, Sie haben meinen Bruder nicht so gut gekannt, wie ich zuerst dachte. Er war pervers. Und ein Perverser spielt eben immer ein falsches Spiel. Er führt ein Doppelleben. Und damit kann er leicht unter Druck geraten. Er kann erpresst
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