Das Gift der Engel
Heimfahrt war Alban so sehr in Gedanken, dass er den Plan, irgendwo essen zu gehen, vergaß. Je mehr er nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass es noch viele Dinge gab, die er gern gewusst hätte.
Jochs Bruder zum Beispiel: Er besaß weniger Geld als Dr. Joch, und er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er Zimmermann hinter Schloss und Riegel wünschte, damit er an das Erbe seines Bruders kam.
Konnte man ihm den Mord zutrauen? Wie hätte er dabei vorgehen können? Joch nach der Oper abfangen, dann mit ihm irgendwo hinfahren. Ihn ermorden – mit der Beethovenbüste, die Joch gehörte. Wie hätte er an die Büste kommen können?
Vielleicht war er mit Joch in dessen Wohnung gefahren und hatte die Beethovenbüste unter einem Vorwand mitgenommen.
Als Zweites die Geschichte mit Dr. Eisenmenger. Alban hatte keinen Grund, an dem, was Frau Richter erzählt hatte, zu zweifeln. War der Chefarzt deswegen verdächtig? Warum hätte er seinen Vorgänger nach all den Jahren töten sollen? Sein Plan war doch aufgegangen. Und Joch schien sich längst damit abgefunden zu haben. Oder hatte er doch noch etwas in die Hand bekommen, womit er sich hät-te rehabilitieren können? Hätte ein solcher Beweis für Dr. Eisenmenger auch heute noch, Jahre später, gefährlich werden können?
Simones Laster stand nicht in der Einfahrt. Alban schloss die Tür auf, und Zerberus begrüßte ihn mit einem krächzenden Maunzen.
Auf der Treppe lag ein großes Blatt Papier mit einer Nachricht. »Bin sehr gespannt, was du herausgefunden hast. Komme erst am frühen Abend nach Hause. S.«
Alban bückte sich, um es aufzuheben. Dabei rieb Zerberus das schwarze Köpfchen an seiner Hand.
»Ja, ich weiß«, sagte Alban. »Ich verstehe ja, dass du dich einsam gefühlt hast.«
Der Kater folgte ihm, als er in sein Zimmer ging, und sprang gleich auf den Sessel. Alban erntete vorwurfsvolle Blicke. Wahrscheinlich erwartete Zerberus, dass jetzt wie gewohnt Musik gehört wurde.
»Tut mir leid, heute nicht«, sagte Alban und wandte sich dem Faxgerät zu. Ein Blatt lag im Auffangkorb.
Es war ein einfach gedrucktes Konzertprogramm – eine der typischen Einladungen kleinerer Veranstaltungen, wie sie stapelweise an strategischen Verteilungspunkten wie Buchhandlungen, Sparkassen oder in Foyers öffentlicher Gebäude lagen. Ganz oben war der Name des Veranstalters zu lesen: »Rheinkunst – Förderung klassischer Musik im Rheinland«. Darunter das Datum des Konzerts, der Name der Künstlerin und das Programm. »Sieglinde van Bergen, Harfe«, las Alban. Werke von Saint-Saëns, Fauré, Bach-Gounod und anderen. Als Veranstaltungsort war eine Kirche in Remagen angegeben. Das Datum lautete Sonntag, 1. Dezember 1996.
Erster Advent. Eine unbekannte Künstlerin stellt sich vor. Vorweihnachtliche Harmonie. Ein Konzert wie viele andere.
»Herzliche Grüße – M.R.« stand mit einer sorgfältigen Kinderschrift auf einer freien Stelle geschrieben.
Interessanter als die Konzertinformationen waren die Hinweise am Fuß des Blattes. Frau Richter hatte ein Ausrufezeichen an den Rand gemalt, dort wo in kleiner Schrift »Vorstand« zu lesen war. Daneben waren drei Namen aufgeführt: Dr. phil. Alessandro Bernardi, Gräfin Therese von Schaumburg und Dr. med. Wolfgang Joch.
Eine Weile starrte Alban nachdenklich vor sich hin und spürte ein Drücken im Magen. Ihm wurde bewusst, dass er seit heute Morgen nichts gegessen hatte.
Unten ging die Haustür auf. Zerberus sprang von seinem Sessel, lief zur geschlossenen Tür und ließ ein leises Maunzen hören.
Alban stand auf, öffnete, und der Kater flitzte die Stufen herunter.
»Nikolaus?«, rief Simone nach oben.
Alban ging die Treppe hinunter. Simone, mit ihrem grünen Overall bekleidet, zog den Schemel aus der Garderobe, ließ sich nieder und knüpfte ihre schweren Schuhe auf.
»Na, Herr Detektiv?«, rief sie. »Hast du einen schönen Ausflug gemacht? Ich platze vor Neugier. Ich habe mich extra beeilt.«
»Lass uns einen Kaffee trinken und was essen. Dann erzähle ich dir alles.«
»Ich bin etwas ratlos, ob diese ganzen Geschichten Herrn Zimmermann irgendwie helfen können«, sagte Alban eine Dreiviertelstunde später. »Aber immerhin habe ich Namen von Menschen aufgetrieben, die Dr. Joch kannten. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schwierig ist. Aber wie komme ich an diese Leute ran? Ich weiß ja gar nicht, wo sie wohnen.«
»Das musst du heutzutage nicht mehr wissen, um an eine Telefonnummer zu kommen«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher