Das Gift der Engel
sehr engen Freundschaften. Herr Dr. Joch war im Grunde ein Einzelgänger. Es gab keinen richtigen Freundeskreis.«
»Sie meinen, es gab nur Sie? Und was war mit Männern?«
Frau Richter wurde unsicher, sah zu Boden und rang nach Worten. »Ich gebe es zu«, sagte sie. »Ich habe mich damals benommen wie ein junges Mädchen. Ich hätte ja auch selbst darauf kommen können, dass Herr Dr. Joch gar keine Frau wollte.«
»War es das, was Sie vorhin dazu brachte zu sagen: ›also doch‹?«
»Als Sie erwähnten, dass er einen Freund hat.« Sie seufzte. »Wissen Sie, es war aber auch wirklich schwer, nicht zu vermuten, dass er etwas von mir wollte – wenn auch ganz auf die höfliche Art. Die Konzertbesuche, die netten Gespräche über klassische Musik. Und dann die Geschenke.«
»Welche Geschenke?«
»Jedes Jahr zum Geburtstag hat er mir eine schöne, sehr sorgfältig ausgesuchte CD geschenkt … Anne-Sophie Mutter, einmal eine Gesamtaufnahme der Oper ›Turandot‹ mit Luciano Pavarotti.«
»Die Einspielung mit Pavarotti und Joan Sutherland unter der Leitung von Zubin Mehta?«, sagte Alban. »Großartig!«
»Ja«, rief sie. »Nicht wahr? Vor allem die Schlussszene, in der die von Liebesunfähigkeit gepeinigte Prinzessin nach und nach erlöst wird – wie ein Eisberg, der langsam zu schmelzen beginnt. Ach, es ist schön, einem Menschen zu begegnen, dem diese Dinge etwas bedeuten.«
Alban konnte nur zustimmen. Trotzdem musste er zum Thema zurückkommen.
»Frau Richter, mir wäre wirklich sehr daran gelegen, herauszufinden, wer diese Partitur geschrieben hat … Hatten Sie eigentlich zu Herrn Dr. Joch noch Kontakt, nachdem er die Klinik verlassen hatte?«
Frau Richter nagte gedankenverloren an ihrer Unterlippe. »Kaum. Manchmal hat er mir noch geschrieben.«
»Zum Geburtstag?«
»Ja. Und ich bekam weiterhin noch einige Jahre eine CD geschenkt.« Sie sah Alban plötzlich unverwandt an. »Es muss ein, zwei Jahre nach Herrn Dr. Jochs Ruhestand gewesen sein. Ich bekam wie üblich meine Geburtstagspost von ihm, aber diesmal war es nicht nur eine CD und eine Karte, sondern noch eine Einladung zu einem Konzert.«
»Beim Rheingau Musikfestival?«
»Nein, nein. Herr Dr. Joch wohnte zu diesem Zeitpunkt ja schon in Bonn, und ich glaube, er hat seine Konzertinteressen auch dorthin verlagert. Es war eine Einladung zu einem Kammerkonzert irgendwo am Mittelrhein. Ich weiß nicht mehr genau, wo. Aber was Sie vielleicht interessiert: Der Veranstalter war ein kultureller Förderverein, dem Herr Dr. Joch angehörte. Ein paar Interessierte hatten sich zusammengetan, kleine Veranstaltungen durchzuführen.«
Alban spürte ein Kribbeln im Bauch. »Können Sie mir sagen, wie der Verein hieß? Oder kennen Sie den Namen eines Mitgliedes?«
Frau Richter schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist bestimmt sechs, sieben Jahre her. Ich bin auch nie auf so einer Veranstaltung gewesen. Das war die Zeit, als meine Mutter so krank war. Ich hatte keine Zeit mehr für private Unternehmungen …« Sie schlug die Augen nieder. »Aber ich habe einige Dinge aufgehoben.« Täuschte sich Alban, oder bekamen ihre Wangen plötzlich eine rote Farbe?
»Karten, und natürlich all die CDs. Die Dinge von Herrn Dr. Joch … Es kann sein, dass ich diese Einladung noch habe.«
»Könnten Sie sie mir vielleicht schicken?«, fragte Alban. »Oder nein, entschuldigen Sie, Sie geben die Erinnerung sicher nicht gern aus der Hand. Vielleicht könnte ich Sie heute Abend anrufen, und Sie nennen mir einfach den Namen des Vereins?«
»Ich habe eine bessere Idee. Haben Sie ein Faxgerät?«
»Oh ja«, sagte Alban.
»Dann fahre ich gleich zu Hause vorbei, suche die Einladung und faxe sie Ihnen von der Klinik aus.«
»Das wäre natürlich sehr hilfreich.« Alban nickte. »Herzlichen Dank, Frau Richter.«
»Ich freue mich, dass ich Ihnen helfen kann. Wissen Sie – ich finde, Sie haben mit Herrn Dr. Joch sehr viel gemeinsam.«
»Was das Interesse an klassischer Musik betrifft, stimme ich Ihnen zu.«
»Nein, ich finde auch menschlich. Die heutige Zeit ist so roh und kalt, so empfindungslos gegenüber geistigen Interessen. Herr Dr. Joch gehörte zu den Menschen, die diesem Verfall etwas entgegensetzen konnten. Und bei Ihnen habe ich diesen Eindruck auch.«
»Oh, vielen Dank für das Kompliment, aber …«
»Ihnen mag das nicht so vorkommen, weil die Welt der schönen Musik und dieser Dinge Ihre Heimat ist. Sie bewegen sich ständig in dieser Welt. Aber
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