Das Gift der Engel
mein Büro«, sagte Alban. »Kommst du mit, Simone? Schließlich interessiert dich die Geschichte der Partitur auch.«
Der Tross begab sich in Albans Arbeitszimmer. Oben angekommen, bemerkte Alban, dass Jung völlig unbeeindruckt von den Büchern und den CDs in den weitläufigen Regalen war. Er schenkte auch den vielen LPs und Tonbändern keinen Blick, nicht einmal dem Steinway.
»Ich denke, wir sollten zur Sache kommen«, sagte Alban. »Setzen Sie sich doch bitte in den Sessel.«
Jung folgte der Aufforderung, und Alban nahm wie gewohnt hinter seinem Schreibtisch Platz. Vor sich hatte er die Partitur liegen. Simone hatte sich einen Stuhl geholt. Alban wollte gerade etwas sagen, da öffnete sich wie von Geisterhand die angelehnte Tür und Zerberus kam herein. Er sah sich kurz um, stellte fest, dass seine Stammplätze besetzt waren, lief durchs Zimmer und sprang auf die Fensterbank.
»Das ist Zerberus«, stellte Alban vor. »Ein weiterer Mitbewohner.« Er räusperte sich. »Ich habe Simone von Ihrem ›Musica‹Projekt erzählt. Sie ist auch sehr neugierig, was aus der Sache wird.«
Simone hob abwehrend die Hände. »Nicht dass du denkst, ich hätte Ahnung von klassischer Musik oder so. Ich find’s einfach nur interessant, das ist alles.«
Jung öffnete die schwarze Tasche und brachte ein dunkelgraues Notebook zum Vorschein.
»Führt uns der Computer die Analyseergebnisse vor oder Sie?«, fragte Alban.
»Der Computer hat die Analyse gemacht«, sagte Jung, der den Blick auf das Display des Laptops gerichtet hielt. »Und die lässt sich mit Grafiken und Statistiken am besten darstellen.«
Alban schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, ich gehöre einer anderen Generation an, und ich benutze einen Computer höchstens, um einen Text zu schreiben. Sagen Sie einfach, was Sie herausgefunden haben.«
»Darf ich wenigstens das Notebook auf Ihrem Schreibtisch abstellen?«
»Natürlich.«
Jung stand auf, brachte den Rechner auf der Schreibtischplatte unter und begann seinen Bericht, als würde er im Doktorandenkolloquium ein Referat halten. Simone ließ nicht eine Sekunde lang die Augen von Peter Jung. In ihrem Blick lag nichts als Bewunderung. Wo die Liebe hinfällt, dachte Alban.
»Wie Sie ja wissen, habe ich die Partitur eingescannt. Der Computer hat sie eingelesen und zunächst das Basismaterial herausgefiltert: Tonhöhen, Tondauern, damit Harmonik, kontrapunktische Satztechniken, Rhythmus, Instrumentierung und auch deren Beziehungen zueinander. Gerade bei diesem Stück, das ja völlig unbekannt ist, ist es wichtig, dass man möglichst viele Parameter berücksichtigt. Können Sie mir folgen?«
Alban nickte. »Was sind nun die Ergebnisse?«, fragte er. »Welchem Stil von welchem Komponisten ähnelt das Stück?«
»Einen Moment, ich muss erst die entsprechende Datei öffnen.« Jung bewegte seine Hand auf dem Touchpad. »Es ähnelt im Großen und Ganzen dem Barockstil, das wissen Sie ja schon. Die Ähnlichkeit ist aber sehr, sehr äußerlich.«
Das hatte Prof. Gräber bereits herausgefunden, dachte Alban. Mit einem kurzen Blick. Ohne Computeranalyse.
»Beginnen wir mit der Melodik und Motivik. Sie entspricht am deutlichsten der Musik von Georg Friedrich Händel. Der Wert liegt bei 42 Prozent.«
»Also doch Händel«, rief Alban. »Und der Text ist aus einer seiner Opern!«
»Davon sollten wir uns nicht beeinflussen lassen. Zweiundvierzig Prozent bei einem Stück, das man ja vielleicht als neu aufgefundenes, bisher unbekanntes Händel-Werk ansehen will, ist ziemlich wenig. Dem Wert folgen Arcangelo Corelli mit neunundzwanzig Prozent und Johann Sebastian Bach mit sechzehn. Und jetzt kommt eine Überraschung. Der nächste Komponist hat sieben Prozent Übereinstimmung. Raten Sie mal, wie er heißt.«
»Das ist ja nun wirklich nicht mehr viel«, sagte Alban.
»Trotzdem! Sie werden sich wundern. Die sieben Prozent rücken alles in eine andere Richtung.«
Alban seufzte, zog die Partitur heran, schlug sie auf und blätterte. Er war für solche Spielchen zu ungeduldig. »Wahrscheinlich nichts Barockes.«
»Richard Wagner. Hochromantik. Und die restlichen Prozente teilen sich Komponisten, die ebenfalls nicht in der Barockzeit lebten: Haydn, Schumann, Schubert, Liszt. Und das allein in der Melodik und Motivik!«
»Moment«, unterbrach Alban. »Was ist mit den vielen anderen barocken Komponisten? Samuel Scheidt? Johann Pachelbel? Was ist mit Vivaldi?«
Jung wiegte den Kopf. »Bedenken Sie bitte, dass es bisher nur um
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