Das Gift der Engel
Parameter wäre die Klangfarbe, also die Instrumentierung. Sie weicht im Großen und Ganzen kaum von der Barockpraxis ab, wobei einige Akkorde einfach falsch gesetzt sind. Das heißt, die Töne sind ungünstig auf die vier Instrumente verteilt. Das ist das einzige, aber sehr typische Indiz für unbestreitbaren kompositorischen Dilettantismus, und der gilt in diesem Fall für alle Epochen. Anders gesagt: Jemand, der wirklich was vom Tonsatz versteht, instrumentiert so nicht. Die Fehler sind echte Fehler und keine künstlerischen Stilmittel. Sie machen einfach keinen Sinn.«
Alban sah damit das Phänomen bestätigt, das er schon beim Musizieren bemerkt hatte.
»Von der Form des Stückes lässt sich auch etwas ableiten. Wie Sie wissen, dominiert im Barock in der Oper die Form der dreiteiligen Arie, das heißt es gibt zwei musikalisch identische Rahmenteile, dazwischen liegt ein kontrastierender Mittelteil. Diese Form der ›Da-capo-Arie‹ liegt hier in sehr freier Form vor – jedenfalls nicht so klar, wie man sie im Barock komponiert hätte. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch mal anmerken, dass die originale Arie von Händel, aus der wir ja auch diesen Text kennen, eine astreine Dacapo-Arie ist. Es gibt also überhaupt keinen Hinweis darauf, dass der Komponist vorsätzlich Händels Arie kopieren wollte – obwohl natürlich, wenn wir uns erinnern, die Melodik stark auf Händel basiert, allerdings auf Händels Gesamtwerk.«
Alban versuchte eine Zusammenfassung. »Unterm Strich ist es also kein sehr altes Stück, und es könnte auch eine Kompositionsübung sein. Richtig?«
»Ganz genau«, sagte Jung. »Wie erwähnt, habe ich aber noch eine gesonderte Untersuchung des Gesangsparts angeschlossen. Sie glauben gar nicht, was es bringen kann, wenn man die Melismatik und die Bauweise einer solchen Gesangsstimme auswertet. Wissen Sie, was Melismatik ist?« Jung drehte sich zu Simone um, die aus ihrer Haltung erwachte und die Schultern hob.
»Ein Melisma entsteht, wenn der Komponist auf eine einzige Textsilbe mehrere Noten setzt. Es entsteht eine Art Tongirlande, die der Sänger meist ohne zu atmen singen muss. Das Originalstück ›Lascia ch’io pianga‹ besitzt übrigens nur sehr wenige Melismen. Unser Werk hier weist dagegen geradezu gewaltige Wucherungen davon auf. Ich selbst bin kein Sänger, aber ich würde mal vermuten, dass es sehr schwer aufzuführen ist.«
Alban tauschte einen Blick mit Simone.
»Und das scheint mir das eigentlich Ungewöhnliche an dem Werk zu sein. Im Streicherpart gibt es viel Dilettantisches, schlecht Gesetztes. Der Gesangspart ist dagegen präzise ausgearbeitet. Herr Alban, Sie haben mich nach einer persönlichen Einschätzung gefragt. Ich würde vermuten, dass der Komponist sich sehr gut mit Gesangsstimmen auskannte.«
Alban beugte sich vor und schüttelte den Kopf. »Und er komponierte etwas, was unsingbar ist?« Er berichtete, wie er mit seinen Streichquartettkollegen und der Sängerin versucht hatte, die Arie zu spielen.
»Sie dürfen nicht vergessen, dass es ganze Kapitel der Operngeschichte gibt, die noch immer kaum erforscht sind, und dass es gerade im Barock Sänger gegeben hat, die Dinge interpretieren konnten, bei denen heute jede Primadonna die Waffen strecken würde.«
Alban lehnte sich zurück. »Sie denken an Kastraten?«
»So ist es. Vieles von deren Repertoire wird heute von Frauen oder von Countertenören gesungen. Aber man weiß eigentlich noch immer nicht so genau, wozu die Kastraten wirklich fähig waren. Man weiß, dass sie das Material, wie es heute in den Noten steht, extrem variiert und ausgeschmückt haben. Wie das theoretisch vonstattenging, kann man aus den überlieferten Noten und aus den Lehrwerken zum Beispiel des Komponisten Nicola Porpora herleiten, der ja viele Kastraten ausgebildet hat.«
»Moment, Moment«, warf Alban ein. »Eben sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass das Stück nicht aus dem 18. Jahrhundert stammt. Und jetzt …« Er verstummte. Plötzlich wurde ihm klar, was Jung meinte. »Soll das heißen, der Sopranpart könnte eine Kastratenpassage sein, die konsequent ausgeschrieben wurde? Und die Begleitung wurde notdürftig dazugesetzt?«
»Es wäre eine Erklärung.«
»Können Sie das mit Ihrem Programm nicht herausfinden?«
Jung schüttelte den Kopf. »Wir haben darüber nachgedacht, auch improvisierte Musik der vergangenen Jahrhunderte in die Datenbank mit aufzunehmen, aber das würde die Datenmenge gigantisch
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