Das Gift der Engel
die Melodik und Motivik geht. Bei den anderen Parametern tauchen andere Komponisten auf.« Er bückte sich wieder und konzentrierte sich auf das Notebook.
»Nur die Ergebnisse«, mahnte Alban. Jung schien ihn gar nicht zu hören.
»Kommen wir zur Harmonik. In dieser Hinsicht schlägt unsere Arie echte Kapriolen. Auch wenn sie beim Hören gar nicht so modern wirkt. Hier haben wir zum Beispiel eine immerhin zweiprozentige Übereinstimmung mit Paul Hindemith. Also mit einem Komponisten des 20. Jahrhunderts.«
»Was?«, entfuhr es Alban.
»Oh ja! Es gibt in der Arie Passagen, die fast schon bitonal zu nennen sind. Und Hindemith ist nicht der einzige Moderne, der in der Harmonikstatistik auftaucht. Wir haben auch eineinhalb Prozent Strawinsky und ein Prozent Bartók.«
»Und wer hat die höchste Prozentzahl?«
»Mozart«, sagte Jung. »Achtunddreißig Prozent. Gefolgt von Haydn: sechsunddreißig Prozent. Dann kommt tatsächlich ein Barockmeister: Bach mit einundzwanzig Prozent. Den Rest teilen sich die Romantiker. Daran sehen Sie sehr deutlich, dass derjenige, der das Stück geschrieben hat, im Barockstil komponieren wollte, aber doch im Geist der Hochklassik und Romantik geschrieben hat. Er konnte seine Hörgewohnheiten nicht ablegen.«
Wieder beugte sich Jung hinunter zu seinem Gerät. Simone hatte die Beine übereinandergeschlagen, stützte den Ellbogen auf die Armlehne und das Kinn auf die Hand. Sie wirkte konzentriert. Alban blickte hinüber zur Fensterbank, auf der Zerberus lang ausgestreckt lag. Offenbar schlief er.
»Jetzt zur Satztechnik«, fuhr Jung fort, »die Art und Weise, wie Komponisten mehrere Stimmen kombinieren. Wie Sie wissen, gibt es dafür je nach Epoche unterschiedliche Regeln, die man unter dem Begriff Kontrapunkt zusammenfasst. Wenn Komponisten versuchen, ältere Stile nachzuahmen, ist es immer sehr interessant zu beobachten, dass sie viel freier mit diesen Regeln umgehen, als es ein Komponist in der Zeit wirklich getan hätte.«
Alban, der das alles wusste, unterbrach. »Was ist dabei herausgekommen?«
»Vierunddreißig Prozent Bartók, siebzehn Beethoven, dreizehn Carl Orff.«
»Orff? Haben Sie wirklich Orff gesagt? An die ›Carmina Burana‹ hat mich die Arie nun aber gar nicht erinnert.«
Jung grinste. Er hatte die Überraschung offenbar erwartet. »Ich habe auch gestutzt, und wir haben das Stück daraufhin einer konventionellen Analyse unterzogen. Darf ich?« Jung griff nach der Partitur und wies auf einzelne Stellen. »Es gibt hier immer wieder Oktavgänge zwischen der ersten Geige und dem Bass, es gibt massenhaft Quintenparallelen und falsch aufgelöste Dissonanzen. Bei Orff gehören diese Dinge zum typischen Stil. In der Barockmusik wäre so was ein empfindlicher Verstoß gegen die Regeln gewesen. Im Grunde bestätigt sich damit, was wir im Bereich der Harmonik herausgefunden haben. Dieser Komponist kennt zwar Barockstücke und will sie offenbar imitieren, aber er baut nur eine Fassade auf.«
Jung schob die Partitur wieder an ihren Platz. »Sie sehen, das Bild vervollständigt sich. Deswegen habe ich ja auch gesagt, dass gerade dieses Stück eine besonders große Herausforderung für unser Projekt darstellt.«
»Nach dem, was Sie bisher gesagt haben, müsste es sich also um einen Komponisten handeln, der nicht im 18., sondern vielleicht sogar im 20. Jahrhundert lebte.«
»Davon würde ich ausgehen. Wobei man einwenden könnte, dass es sich auch um einen Komponisten handeln kann, der einfach sein Handwerk nicht beherrscht. Gerade was die kontrapunktischen Techniken betrifft.«
Alban dachte daran, was Bernardi und Prof. Gräber gesagt hatten. »Sicher«, sagte er. »Was Ihr Computerprogramm natürlich nicht leisten kann, ist eine Bewertung. Die muss jeder für sich selbst vornehmen.«
»Selbstverständlich. Hier stoßen wir an Grenzen. Aber das sind Grenzen, die es in der Geisteswissenschaft immer gab und immer geben wird. Aber Sie werden sehen, wir kommen zu einem interessanten Ergebnis. Ich habe da einen ganz anderen Verdacht. Und ich glaube, der wird Sie umhauen.«
»Welchen? Mein lieber Herr Jung, spannen Sie uns doch nicht so auf die Folter.«
Der Student ließ sich nicht beeindrucken. »Einen Moment, bitte. Vielleicht irre ich mich ja, und die Ergebnisse legen Ihrer Meinung nach einen anderen Schluss nahe. Diese Möglichkeit sollten wir in Betracht ziehen.«
Alban hob die Hände und gab sich geschlagen. Der Junge war alles andere als dumm.
»Der nächste
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