Das Gift der Schmetterlinge (German Edition)
die Treppe hinauf. In der Mitte der Eichentür befand sich ein riesiger Messingklopfer in Form eines Hundekopfes. Mit letzter Kraft hob ich ihn mit beiden Händen an und ließ ihn auf das uralte Holz der Türfüllung krachen. Der Schlag hallte durch das ganze Haus und wurde augenblicklich von einem misstönenden Konzert heulender Hunde beantwortet. Dann wieder glaubte ich, daneben auch einen anderen Ton zu hören, nicht von einem Tier und nicht von einem Menschen, sondern eine Art Melodie, eine hohe, klagende Weise, die aber bald vom Wind verschluckt wurde.
Endlich, mit scheußlichem Ächzen, wurde die Tür geöffnet. Ein knochendürrer Mann ragte vor mir auf und musterte ausdruckslos meine durchnässte Gestalt. Seine krankhafte Blässe erinnerte an eine Pflanze, die nie die Sonne gesehen hat.
»Ja?«, sagte er gedehnt.
»Ich muss etwas abgeben«, krächzte ich. »Für Lady Mandible.«
»Wer ist gekommen, Gerulphus?«, fragte da eine zweite, höhere Stimme. Hinter ihm erschien eine Dame in einem unglaublich weiten Rock, sie hatte das dunkelste Haar, das Du je gesehen hast, große, fast violett glänzende Augen und volle blutrote Lippen.
»Ein Junge, Euer Ladyship«, antwortete Gerulphus langsam. »Nur ein Junge.«
Ich wollte etwas sagen, aber da hörte ich wieder irgendwo im Haus diese Musik. Sie erhob sich zu einem unerbittlichen Crescendo, schwoll in meinen Ohren an und dröhnte mir durch den Kopf, bis ich kaum mehr denken konnte.
Und das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Die Erschöpfung schlug endgültig über mir zusammen, im Bruchteil einer Sekunde wurde alles um mich dunkel und ich fiel zu Boden …
Kapitel 15
Ankunft
N
ach seinem Zusammenbruch auf der Eingangstreppe von Withypitts Hall erwachte Hector in weitaus angenehmerer Umgebung: Er lag auf einer Couch mit weichem Samtüberzug in einem von flackernden Lichtern hell erleuchteten Raum. An der gewölbten Decke über ihm hing ein Kronleuchter, auf dem Hunderte von Kerzen funkelten.
Langsam sah er sich um und war dabei so angetan von den vergoldeten Möbeln, der Velourstapete mit Orientmuster, den opulenten dunklen Vorhängen, dem schwarzen Marmorkamin, in dem ein herrlich orangerotes Feuer prasselte, dass es eine Weile dauerte, ehe er die Anwesenheit anderer Menschen im Raum bemerkte.
»Er ist wach, Mylady«, sagte Gerulphus’ unverwechselbare Stimme. Er stand unmittelbar hinter der Couch.
Hectors verständnisloser Blick begegnete der neugierigen Miene der Lady mit den blutroten Lippen. Sie saß ihm gegenüber auf einer mit heller Seide bezogenen Chaiselongue und fächelte sich träge mit einem Fächer aus Pfauenfedern Kühlung zu. Plötzlich klappte sie den Fächer zusammen und winkte ihn heran.
»Komm her zu mir«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, aber gebieterisch. Hätte sie eine Farbe, dachte Hector, wäre sie tiefbraun. »Setz dich.« Neben der Chaiselongue war ein kleiner Hocker und davor ein niedriges Tischchen, auf dem ein Teller mit buntem Zuckerzeug stand. Daneben befanden sich eine hohe Silberkanne mit schlanker Tülle, eine fein gemusterte Tasse mit dem dazugehörigen Zuckerschälchen und ein Kristallglas mit einem Krug, der randvoll mit einer perlenden bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war. Hector stand auf, und seine Füße versanken in dem dichten grauen Wolfspelz (komplett mit Schädel, Reißzähnen und gelben Augen), der zwischen den beiden Couchen auf dem Boden lag.
Vorsichtig setzte er sich auf die Hockerkante – er konnte sich den Zustand seiner Kleidung nur zu gut vorstellen. Außerdem merkte er, wie ausgehungert er war, und so konnte er nicht anders, als sehnsüchtig die appetitlichen Leckerbissen anzustarren, deren Duft ihm in die Nase stieg. Sie rochen nach Marzipan und dunkler Schokolade, waren mit Glasur überzogen und mit Rosinen und hellroten Kirschen verziert.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Ihr seid Lady Mandible«, sagte Hector langsam, »und dieses Haus nennt sich Withypitts Hall.«
»Und wie ist dein Name?«
»Hector. Der Baron hat eine Kutsche nach mir geschickt.«
»Ah, der Schmetterlingsjunge«, erwiderte Lady Mandible. »Das dachte ich mir bereits. Schön, dass du hier bist.« Sie sah ihn genauer an. »Hast du Hunger?«
Man hatte Hector immer eingeschärft, es sei nicht höflich, offen seinen Hunger einzugestehen, aber nach seinem vorübergehenden Aufenthalt in Mrs Fitchs Heim waren seine Manieren nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen waren. Kaum in der Lage, die Augen
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