Das Gift des Boesen
während ich den Kelch neben Landru auf die Bettstatt sinken lasse, mich über ihn beuge und mein Ohr auf seine heiße Brust lege.
Sein Herz schlägt noch; er lebt. Ich fange an zu zittern. Die Anspannung löst sich wie ein Krampf.
Hinter mir tritt Philippe in die Stube und sagt: »Es ist wieder passiert. Heute Nacht. Nun sind es zehn Kinder, alle unter acht Jahren, die aus ihren Gräbern gestohlen wurden - und ein jedes gleich in der ersten Nacht nach seiner Beerdigung. Trotzdem gibt es noch immer keine Spur vom Täter. Die Beamten des Stadtvogts und des Bischofs tappen im dunkeln. Jedem Fremden wird Mißtrauen entge-gengebracht. Auch wir müssen mit einer Überprüfung rechnen.«
»Wir sind doch erst angekommen«, werfe ich ein, immer noch in die Grübelei versunken, was ich getan hätte, hätte ich das Herz unter dem Kissen nicht mehr schlagen hören.
Philippe schweigt. Er hat mir die nackten Fakten berichtet, mehr kann ich von ihm in seinem Zustand nicht erwarten.
In diesem Moment bricht ein Röcheln aus Landrus Kehle. Ich fahre hoch. Seine Augen fangen meine Bewegung ein, sind nicht mehr fiebrig starr und ins Nirgendwo gerichtet.
»Geh ...«, tropft ein Wort in die Stille.
Ich balle die Hände zu Fäusten. Will er mich wegschicken? In dieser Lage? Kopfschüttelnd erhebe ich mich neben ihm. »Ich bleibe, egal, was geschieht! Wir werden einen Weg finden, dir zu helfen.«
»Du ... verstehst ... nicht«, ringt er sich neue Worte ab. »Philippe wird sich ... um mich ... kümmern, während du ... Nachforschungen ... anstellst.«
Ich kann nicht glauben, was ich höre. »Ich lasse dich nicht allein .« Mein Blick irrt zu dem Kutscher, der in seiner Heimatstadt alles aufgegeben hat, alles aufgeben mußte, weil wir es so wollten. »Er ist kein Ersatz. Ich hätte keine ruhige Minute .«
»Du mußt.« Landrus Lippen zucken.
Auch ich bebe. »Das kannst du nicht verlangen! Die Leichendiebstähle sind nebensächlich - hier geht es um dich! Wir werden uns gemeinsam darum kümmern, wie wir es auch ursprünglich vorhatten, sobald du wieder auf den Beinen bist!«
»Du verstehst ... immer noch nicht ...«
Ich presse die Lippen aufeinander, warte, daß er fortfährt mit seinem vorwurfsvollen Reden. Als dies nicht sogleich geschieht, verliere ich die Geduld und dränge, heftiger als gewollt und wohl auch harscher als angemessen: »Was verstehe ich nicht?«
In seinen Augen glimmt ein abseitiges Licht auf. Die Finger von Landrus linker Hand tasteten so zeitlupenhaft zum Kelch, als lähm-te sie das jähe Bewußtsein ihres wahren Alters.
In dem Moment, als sich die Hand um den glatten Stil des Kelchs schließt, ohne daß die Magie darin zu erkennen gibt, ob sie es bemerkt, höre ich Landru auf meine Frage antworten.
»Daß es ...«, seufzt er heiser, »... einen Zusammenhang geben könnte ... zwischen dem, was mir ... und dem, was all den Toten ... widerfährt .«
*
Bevor ich nachfragen kann, wie er auf diese Idee kommt (die mir aus der Luft gegriffen scheint und jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt), klopft es erneut und keinesfalls höflich gegen die Tür der Dachstube. Eine befehlsgewohnte Stimme plärrt: »Macht auf und weist Euch aus! Wir kommen im Auftrag des Vogts!«
Ich zerre ein Laken vom Bettende und bedecke damit Landrus Blöße. Ich will nicht, daß andere ihn so zu Gesicht bekommen. Beim Philippe ist es etwas anderes, er macht sich keine Gedanken über das, was er sieht und hört.
»Heda! Aufmachen! Der Wirt sagte, daß ihr die Herberge nicht verlassen habt .«
Die Tür ist nicht verschlossen. Jederzeit kann die Klinke niedergedrückt werden, und dann .
Ich komme ihnen zuvor. Mit wenigen Schritten bin ich an der Tür und öffne sie einen Spalt weit.
Draußen im dämmrigen Treppenaufgang drängen sich eine Handvoll Gestalten, alle uniformiert. Als der Anführer mich erblickt, hellt sich seine finstere Miene ein wenig auf. Vielleicht gefalle ich ihm.
Er wirft sich in die Brust und sagt: »Wir überprüfen jeden Ankömmling. Laßt uns ein!«
Ich mime das Unschuldslamm, schüttele den Kopf und gurre: »Das ... geht nicht, edle Herren.«
»Was heißt, es geht nicht?« Die Miene des Hauptmanns wird verdrossen. »Ihr -«
»Mein Vater ist krank. Er braucht Ruhe. Lärm und Aufregung könnten sein Tod sein .«
»Eine Krankheit?« Die Augen des schmalgesichtigen Mannes mit der Hakennase weiten sich. »Was für eine Krankheit ist das? Die Torwachen haben Befehl, niemanden mit einer ansteckenden -«
»Es ist
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