Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
Bouquet von schwerem Rotwein heute untrennbar verbunden mit einem anderen Geruch, metallisch, warm und fleischig zugleich, einem Geruch, der eine Diashow von starren Bildern vor meinem geistigen Auge heraufbeschwört, eine Serie von Fotos, die nebeneinander in einer Einsatzzentrale der Polizei hängen.
Sie faltete ein Notenblatt wie eine Ziehharmonika auseinander. Ich überflog es. Das Lied kannte ich nicht, und die Linien und Punkte der Notation waren für mich unentzifferbar. Aber der Text war ganz einfach.
» Als Erstes musst du wissen, was du da singst. Deshalb übersetze ich es dir.« Ich wühlte einen Kuli aus meiner Tasche und schrieb die englische Übersetzung unter den Text. » Möchtest du ’ne Zigarette, während du arbeitest?«, fragte Biba und ließ Wein in die beiden Gläser schwappen.
» Ich rauche nicht, danke.«
» Du hast so ein Glück«, sagte sie wehmütig und rutschte um den Tisch herum, damit sie über meine Schulter hinweg lesen konnte, was ich schrieb. Sie legte einen Arm um mich, sodass unsere Wangen sich aneinanderschmiegten, und formte die Worte mit dem Mund, als mein Stift sie zu Papier brachte. Soziale Distanz war offensichtlich ein Begriff, den sie nicht kannte. Dies in Kombination mit ihrer exzentrischen Kleidung und ihrer absoluten Unbefangenheit führte dazu, dass ich inzwischen ziemlich sicher war, an eine Verrückte geraten zu sein, faszinierend und entwaffnend anders als alles, woran ich gewöhnt war. Wenn ich die Augen schloss, war ihr Abbild unauslöschlich auf die Innenseite meiner Lider geprägt. Sie roch nach Shampoo und Zigaretten und noch etwas anderem, das ich nicht genau bestimmen konnte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals jemandem so nah gewesen zu sein, der so menschlich und so weiblich roch.
» Zunächst mal, was ist denn das für ein komischer Buchstabe?«, fragte sie und zeigte auf ein Eszett.
» Das ist wie ein Doppel-S«, sagte ich. » Und du stehst mir im Licht.« Ich ließ meinen Kuli hochschnippen und klopfte ihr damit auf die Nase. Sie rückte noch näher heran.
» Bist du immer so streng?«, fragte sie.
» Wenn ich unterrichte, ja. Als Nächstes werde ich es dir phonetisch aufschreiben, damit du genau weißt, wie du es aussprechen musst. Deutsch ist schwer zu lernen, aber die Aussprache ist so knifflig nicht. Hier ist nichts dabei, was du mit etwas Übung nicht sagen kannst.«
Sie las meine phonetische Fassung laut vor. Ich war überrascht von ihrem Selbstvertrauen und ihrer Fähigkeit, ihre scharfe englische Aussprache zu kaschieren. Mir ist aufgefallen, dass Leute oft versuchen, ihren Gaumen umzuformen, um ihn an eine Fremdsprache anzupassen, aber sie drückte einfach die Zunge nach oben, ohne dass ich es ihr erklärte, und brachte so die rauen Rachenlaute hervor.
» Wie mache ich mich?«, fragte sie, nachdem sie den Text zweimal gelesen hatte.
» Wirklich gut. Du musst an deinen langen und kurzen u s arbeiten– da gibt es im Englischen keine echte Entsprechung–, aber das ist wirklich nur Übungssache.« Und ich ließ sie mit spitzem Mündchen ein paar Umlaute produzieren.
» Vielen, vielen Dank.« Sie faltete das Notenblatt zusammen und steckte es wieder ein, und dann stellte sie die Frage, die jeder stellt.
» Und wenn du keine Deutsche bist, wieso kannst du dann so sprechen?«
» Es fällt mir einfach leicht.« Ich hasste es zu erklären, was meine Mutter » mein Talent« und mein Vater » seine Rente« nannte. Biba zog sofort den üblichen Schluss.
» Ich verstehe«, sagte sie. » Es ist angeboren. Man kann es, oder man kann es nicht. Wie Schauspielern. Es ist eine Berufung.«
» Nicht ganz«, gestand ich. » Es liegt an der Arbeitsweise meines Gehirns.«
» Wie ein Sprachencomputer«, sagte sie, und jetzt kam sie der Sache ein wenig näher. » Eine automatische Übersetzungsmaschine. Wie der Fisch in diesem Buch, der alles übersetzen kann? Wie heißt der gleich?«
» Der Babelfisch«, sagte ich. Sie hatte den Spitznamen gefunden, den mein Vater für mich benutzte.
» Der Babelfisch, genau! Mein Bruder hat das Buch. Es hat einen gewissen Reiz für Nerds, nicht wahr?«
» Keine Ahnung«, sagte ich. Ich fragte mich, wie Bibas Frechheit mir stehen würde, und stellte fest, dass sie sich angenehm anfühlte. » Ich bin ja kein Nerd, ich bin ein Genie.«
» Kannst du freihändig einen perfekten Kreis malen?«
» Was? Ich glaube nicht, nein.«
» Solltest du mal versuchen. Das gilt als Zeichen dafür, dass jemand ein Genie ist«,
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