Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
sagte sie. » Leonardo da Vinci konnte es. Ich hab’s als Kind immer wieder versucht, aber ich konnte es nicht. Ich war so enttäuscht, als mir schließlich klar war, dass ich kein Genie bin. Es würde mir gut stehen, oder? Aber du scheinst mir ziemlich normal für ein Genie zu sein. Du hast soziale Kompetenz.« Sie musterte mich von oben bis unten. Ich umfasste mein Weinglas mit beiden Händen, weil ich nicht wusste, was ich sonst mit ihnen tun sollte. Die Art, wie ihr Blick auf meinen ineinander verschränkten Fingern verweilte, verriet mir, dass sie Körpersprache so mühelos deuten konnte, wie ich zwischen Dialekten hin und her sprang. » Ich meine, sie ist noch ziemlich rudimentär, aber daran können wir arbeiten.« Sogar ihre Beleidigungen hatten einen charmanten Glanz.
» Na, dann nennen wir es doch einen Kompetenzentausch«, sagte ich, und sie lachte mit mir. Ich löste die linke Hand von meinem Glas und legte sie versuchsweise auf den Tisch, wo sie aber nicht herumflippte wie ein gestrandeter Fisch, sondern still liegen blieb. Mit einem verstohlenen Blick signalisierte sie Anerkennung für diese Entwicklung.
» Du hast ein solches Glück, dass du keine Berufung hast«, sagte sie unvermittelt und spähte wehmütig aus dem Fenster, sodass ich mich selbst umdrehte und ihrem Blick folgte. Aber ich sah nur die untere Hälfte einer Reihe Müllcontainer. » Weißt du, ich muss spielen, ob das Spielen mich haben will oder nicht. Das ist nicht wie ein Job, den du annehmen oder aufgeben kannst.« Eindringliche, leidenschaftliche Gespräche wie dieses waren vielleicht gang und gäbe unter Theaterstudenten, aber für mich war so etwas neu, und ich empfand ihre mangelnde Zurückhaltung peinlich. Attraktiv und bezwingend, ja, aber hauptsächlich peinlich. Biba rutschte wieder an ihren Platz zurück, und ich sah, wie dünn sie war. Als sie ein Bein über das andere legte, kreuzten sich ihre Oberschenkel, nicht die Knie, und ihr Bauch sprang nicht heraus, als sie sich vorbeugte, sondern knickte sich nach innen wie ein dünnes Stück Pappe. » Fuck …« Sie benutzte dieses Wort, wenn sie überlegte, was sie als Nächstes sagen solle, wie das französische alors. » Fuck, das Schauspielern ist mehr als nur eine Berufung. Es ist ein Kopiermechanismus«, erklärte sie und wedelte mit ihrer Zigarette so dicht vor meinen Augen herum, dass mir die Tränen kamen. Ich fragte mich, was sie da hatte verkraften müssen. » Ich verstehe nicht, warum du nicht schauspielern willst. Denn was immer dir passiert, so schrecklich es auch sein mag, oder auch bei wunderbaren Erlebnissen– du kannst dabei immer denken, halte es fest, erinnere dich daran, wie es sich angefühlt hat, und eines Tages kannst du es gebrauchen. Du kannst kein wirklich fabelhafter Schauspieler sein, wenn du kein Leben gehabt hast. Darum will ich alles tun. Alles ausprobieren, alle kennenlernen, von allem kosten. Verstehst du das nicht? Denn je mehr Reserven ich anzapfen kann, desto mehr kann ich als Schauspielerin tun. Tatsächlich…« Anscheinend wurde sie sich plötzlich ihrer selbst bewusst, und sie sprach mit aufgeblasener, knirschender Stimme weiter. » Tatsächlich ist man es seinem Handwerk schuldig, ein außergewöhnliches, ein sensationelles Leben zu führen.« Ich lachte– erleichtert darüber, dass sie ihre eigene Anspannung durchbrochen hatte. Jetzt hatte ich Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Ich musste dieses Gespräch vom Himmel herunterholen, wenn ich etwas dazu beitragen wollte.
» War deine Mum in den Sechzigerjahren denn ein Biba-Girl? Heißt du deshalb so?«
» Ich wünschte, es wäre so.« Sie verzog das Gesicht. » Tatsächlich heiße ich Bathsheba. Ist das nicht abscheulich?«
» Ich finde es hübsch«, sagte ich. » Vier Konsonanten hintereinander. Das ist ungewöhnlich.«
» Wirklich? Das ist noch niemandem aufgefallen. Vielleicht hast du recht, und du bist wirklich ein Genie. Als ich ein Baby war, brachte mein Bruder Bathsheba nicht über die Lippen. Er ist nur drei Jahre älter als ich, und alles, was er zustande brachte, war ›Biba‹, Gott sei Dank. Ich konnte ihm den Gefallen allerdings nicht erwidern. Er ist am Arsch: Sein Name ist Rex, und was fängst du damit an? Man kann es nicht abkürzen, und sein zweiter Vorname ist Caspian; den kann er also auch nicht benutzen. Aber das kommt, wenn du Siebzigerjahre-Eltern hast, oder? Eine ganze Generation schleppt diese grässlichen Hippienamen mit sich herum.«
» Wem sagst du
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