Das gläserne Tor
Augenfarbe hatte er noch nie gesehen. Tatsächlich, sie war wie Metall. Ganz so wie die Ringe an den Zehen.
»Ich glaube, mir wäre es lieber, wenn du mir nicht in die Augen siehst«, meinte sie.
Das war keine gewöhnliche Frau, die er da vor sich hatte. Wie alt war sie überhaupt? Sie besaß ein spitzes Kinn, eine lange, gerade Nase und fein gewölbte Brauen über den Augen, die sehr groß waren. Die Züge eines jungen, äußerst schönen Mädchens, wären da nicht die Fältchen in den Winkeln.
Endlich schaffte er es, den Blick von ihr zu reißen. Als sich ihre Hand auf seine Schulter legte, ging wieder ein Ruck durch seinen Körper, so kalt war sie.
»Oh, nicht erschrecken! Ich will mir doch nur deinen Arm ansehen.«
»Das?« Anschar streckte den Arm aus, mit der Handinnenfläche nach oben.
Geeryu rümpfte angeekelt die Nase. »Nein, die andere Seite.«
Er drehte den Arm um und wartete geduldig, bis sie sich an der Tätowierung sattgesehen hatte. Fast ehrfürchtig fuhr sie die schlangendicke Linie entlang, vom Ellbogen bis zu den Knöcheln. Unter der Berührung der eiskalten Finger wurde seine Haut körnig.
»Deine Hand ist fast verheilt. Dann kannst du ja wieder ein Schwert halten, nicht wahr? Ich möchte dich so gerne kämpfen sehen.«
»Warum liegt dir daran so viel?«
Ihre Augen wurden schmal. »Es ist nicht an dir, Fragen zu stellen. Aber kannst du dir nicht vorstellen, dass es aufregend ist, wenn zwei Männer um Leben und Tod kämpfen?«
»Vor allem für die zwei Männer«, sagte er kühl.
»Gib dich nicht so grimmig.« Sie ließ seinen Arm los. Ein Gelbschwanz, der zwischen den Grashalmen nach Beute pickte, weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie streckte sich nach ihm. Der Vogel wich vor ihr zurück und legte den Kopf schräg, um sie zu beäugen. »Kann man denn behaupten, gut zu sein, wenn man nur Übungskämpfe macht? Und nie um sein Leben bangen muss?«
»Übungskämpfe sind zwar alles andere als ungefährlich, aber es lässt einen nicht träge werden, wenn man kämpft, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Falls es das ist, was du meinst.«
»Ja, das habe ich gemeint. Das kann nicht genügen. Die Technik lässt sich mit Übung vervollkommnen, aber wenn es um das eigene Leben geht, müssen doch ganz andere Dinge zum Tragen kommen.«
Er konnte über die Gedankengänge dieser Frau nur staunen. »Wenn du so willst, bin ich den Beweis, auch dann gut zu sein, noch schuldig geblieben.«
»Könntest du nicht gegen Sklaven kämpfen?«
»Wozu?«
»Die könntest du töten. Sie würden sich mit aller Macht dagegen wehren, und dann müsstest du dich ernsthaft verteidigen.«
Warum, bei allen Göttern, wollte sie das wissen? Was war das nur für eine Frau? »Nein, das hätte nicht die gewünschte Wirkung«, erwiderte er, inzwischen des Gespräches müde. »Sie müssten in jedem Falle sterben, und das lähmt sie. Sie brauchen ein Ziel, für das sich der Einsatz lohnt. Die Freiheit zum Beispiel.«
»Die Freiheit?« Die Empörung stand ihr ins seltsam schöne Gesicht geschrieben. »Und die bekämen sie, nachdem sie einen der Zehn getötet hätten? Du kommst ja auf Gedanken!«
»Ich sagte doch, dass es so nicht geht. Sklaven sind keine geeigneten Gegner.«
»Hm. Woher weiß man dann, wer der beste der Zehn ist, wenn jeder auf vollkommene Weise zu kämpfen versteht?«
»Man weiß es nicht«, presste er mit wachsendem Widerwillen hervor. »Man kann es nur vermuten.«
»Und was wäre deine Vermutung? Wer ist der Erste der Zehn?«
»Herrin, warum …«
»Antworte!«
Er schüttelte den Kopf, aber er musste antworten. »Vielleicht ich, vielleicht Darur.«
»Darur? Der Grauhaarige? Hm«, sie legte nachdenklich einen Finger an die Wange. »In sieben Tagen jährt sich die Hochzeit des Götterpaares Inar und Hinarsya. Der Meya und seine Gemahlin, die Hohe Priesterin, werden sich wie jedes Jahr ins Heiligste des Tempels begeben, um die Hochzeit zu vollziehen. Und wie jedes Jahr zürnt Mallayur, dass dies nicht auf herschedischem Boden geschieht.«
Das weiß ich alles, wollte Anschar einwenden. Das Götterpaar war auf Hersched herabgestiegen, um sich zueinander zu legen. Dass der Meya diese Tatsache missachtete, war eines der vielen kleinen Dinge, weswegen Mallayur seinem Bruder beständig grollte. Madyur war nicht immer der kluge, umsichtige Herrscher, als den das Volk ihn sah. Nicht, wenn es um seinen jüngeren Bruder ging. Andernfalls hätte er sich nicht auf die verhängnisvolle Wette
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