Das gläserne Tor
strich ihm nur begütigend über die Schulter. Ihr tat es selbst leid, sie hätte nicht davon anfangen sollen. Es hatte seinen Grund, dass alles so war, wie es war. Niemand hier wartete auf eine fremde junge Frau, die für ein paar Sekunden geglaubt hatte, in das Schicksal zweier Völker eingreifen zu können.
»Herrin? Darf ich fragen, wovon … ich meine … was sollst du üben?«
»O Henon. Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit. Verzeihung.« Tief senkte er den Kopf.
12
D er Händler, der seine Grasmatten vor dem Gärtner ausbreitete, konnte kaum den Blick von Anschar reißen. »Einer der Zehn verdingt sich als Tragsklave? Wie kommt das?«
Der alte Gärtner fächerte in aller Ruhe den Stapel auf und prüfte die Güte jeder einzelnen Matte. »Siehst du nicht, dass er am Ohr markiert ist? Er tut, was man ihm sagt, wie es die Pflicht eines Sklaven ist.«
Nur langsam gelang es dem Händler, den Mund wieder zuzuklappen. Anschar hielt die Arme auf und nahm die Matten, die der Gärtner auswählte, in Empfang. Es folgte eine wortreiche Erklärung des Händlers, dass diese Matten von den fingerfertigsten Sklaven geknüpft worden waren, und das übliche Feilschen, das jedoch knapp ausfiel. Kein Händler wagte es, den Bediensteten eines königlichen Hauses zur Weißglut zu bringen, also nickte der Gärtner recht bald zufrieden und schlug Anschar auf die Schulter, damit er ihm vorausging.
Im Palastgarten legte Anschar die Matten vor dem Vogelhaus ab. Es war ein aus Grasgeflecht errichteter Rundbau, in dem eine Wolke von Ziervögeln, deren Federn und Schnäbel in Türkis, Grün und Blau metallisch schimmerten, die Luft mit ihrem Zwitschern und Kreischen belebte. Aus einer gänzlich von Weinreben überwucherten Hütte holte er eine Leiter und lehnte sie an das Geflecht. Dann stieg er auf die oberste Sprosse und fing an, die alten, von der Sonne geblichenen Matten abzuschneiden. Er warf sie hinunter und ließ sich die neuen Matten hinaufreichen, dazu ein Schnurbündel, sie festzubinden. Um die Mitte des Daches zu erreichen, musste er ein Stück hinaufkriechen. Das Geflecht knarrte unter seinem Gewicht.
»Lass mich das lieber machen«, sagte der Alte. »Das Spektakel, wenn du da einbrichst und die Vögel sich in alle Winde zerstreuen, möchte ich nicht erleben.«
»Es dauert nicht lange.«
»Du wirst es nie lernen, nicht zu widersprechen!« Der zahnlose Alte, dessen Körper noch dürrer als der von Henon war, zeigte vor seiner Tätowierung wenig Respekt. »Warum, um alles in der Welt, hat man dich ausgerechnet mir zugeteilt?«
Darauf sagte Anschar nichts, denn der Gärtner kannte
die Antwort. Hier im Garten ließ sich einiges tun, ohne die geschundene Hand zu stark zu belasten. Anfangs hatte er nur mit der linken Hand Wassereimer herangeschleppt, Unkraut gezupft und dürre Blüten und Blätter entfernt; inzwischen war der Verband entfernt, und er konnte einen Spaten anpacken. Auch war der Garten der Ort, wo er seine Übungen machte. Täglich vollführte er vor den Augen säumiger Sklaven und neugieriger Hofdamen einen Tanz aus Sprüngen, Hieben und Stößen gegen unsichtbare Gegner. Dann hallte sein Stöhnen und Keuchen von den Mauern ringsum wider und kämpfte gegen das Lärmen der Ziervögel an.
Anschar streckte den Rücken und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Auch jetzt bemerkte er, wie die Sklaven in den Pfeilergängen, die den Garten umgaben, stehen geblieben waren. Im ersten Stock, auf der Galerie, standen herschedische Frauen, die schlanken Arme auf der hölzernen Brüstung. Ein Kind lachte, wohl eines der vielen Bastardsöhne des Königs. Trotz all der neugierigen Blicke war der kleine Garten inmitten des Palastes der einzige Aufenthaltsort, den Anschar als erträglich empfand. Die Blumenbeete mit der roten Heria standen in voller Pracht, das Grün der Zierbäume war saftig und leuchtete in der Sonne. Ein Sklave mühte sich ab, die kranken Zweige einer Rotweide herunterzuziehen und abzuschneiden, ansonsten war hier vom Fluch der Götter wenig zu sehen. Zwei weitere Sklaven schleppten Wasser heran und verteilten es auf den Beeten. Gelbschwänze hüpften über das Gras und pickten nach Würmern. Das Beste an diesem Garten war zweifellos, dass Anschar den Sklavenaufseher nur noch zu Gesicht bekam, wenn er abends in den Schlafraum ging.
An das rätselhafte Gebilde, das er in jener Nacht vor drei Wochen gesehen hatte, dachte er kaum noch. Er war sich gar nicht so sicher, nicht vielleicht
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