Das gläserne Tor
einer Sinnestäuschung erlegen zu sein, hervorgerufen durch die Folter. Selbst der Weg aufs
Dach, um einen Blick auf Grazia zu erhaschen, erschien ihm nun wie ein lange zurückliegender Traum. Wie es ihr wohl erging? War sie inzwischen klüger, was den möglichen Weg zurück in ihre Welt betraf? Noch war sie hier – um das zu wissen, brauchte er nur die Ohren aufzusperren. Sklaven tratschten für gewöhnlich nicht weniger als andere Leute.
Ein zweites Mal hatte er das Palastdach nicht mehr betreten. Ihr Anblick, selbst aus weiter Ferne, machte alles nur noch schlimmer.
»Du sollst dich da oben nicht ausruhen«, knurrte der Gärtner.
Anschar schloss die letzten Knoten. »Ich bin fertig.«
»Dann …« Der Alte verstummte und machte einen Satz zur Seite. Niemand anderer als der König von Hersched war herangetreten, am Arm eine Frau. Belustigt sah er zu Anschar hoch.
»Dich bekommt man sicher nicht häufig kriechend auf einem Vogeldach zu Gesicht«, sagte er spöttisch. »Das sieht albern aus für jemanden wie dich.«
»Sicher nicht alberner, als auf einem Brett festgeschnallt zu sein«, erwiderte Anschar. Falls er damit den Zorn seines Herrn wecken wollte, was er selbst nicht so genau wusste, schien es ihm nicht zu gelingen. Mallayur verzog nur spöttisch einen Mundwinkel.
»Komm herunter.«
Anschar sprang hinab, gab das Werkzeug dem Gärtner, der sofort das Weite suchte, und machte seine Verbeugung. Dabei bemerkte er, dass die Frau barfuß war. An ihren Zehen glänzten silberne Ringe. Der Rest des Körpers war unter einem weißen, mit goldenen Stickereien verzierten Gewand verborgen, das einen harten Gegensatz zu ihren Haaren bildete. Lang und tiefschwarz umwallten sie ihre Schultern. War das die neue Favoritin des Königs? Mallayur besaß keine
Gemahlin, aber dafür Bettgefährtinnen in reicher Zahl. Aus dem ganzen Hochland ließ er sie sich kommen, sogar aus dem entfernten Praned. Diese hier war dem Aussehen nach jedoch eine Herschedin.
»Er sieht dir ja in die Augen!«, sagte sie zu Mallayur, während sie zwei Finger durch das Geflecht steckte und versuchte, an den grashalmdünnen Schwanzfedern eines Vogels zu zupfen. »Hast du nicht gesagt, er sei ein Sklave?«
Es klang nicht vorwurfsvoll, nur erstaunt.
»Er ist ein Krieger, daher müssen wir ihm das schon zugestehen«, sagte Mallayur. »Man muss die Augen des Gegners sehen, um zu durchschauen, was er tun will. Wäre er es gewohnt, den Blick immer gesenkt zu halten, müsste er sich im Kampf vielleicht auch erst dazu überwinden. Ein großer Nachteil.«
»Ja, das verstehe ich. Ich würde ihn gern einmal kämpfen sehen. Die Übungen, die er macht, wirken vielversprechend. Vielleicht gegen dich?«
»Ich soll gegen einen Sklaven kämpfen?« Mallayur lachte. »O Geeryu! Das lassen wir doch lieber bleiben.«
Dann kam, womit Anschar nicht mehr gerechnet hatte: Die Frau sprach ihn an. »Sag, würdest du gegen deinen Herrn bestehen? Gib eine ehrliche Antwort.«
Dazu hatte Anschar nicht die geringste Lust. Fast noch schlimmer als die bisherigen Foltern war der Zwang, Fragen beantworten zu müssen, und wenn sie noch so dumm und überflüssig waren. In Madyurs Palast hatte er sich das Recht herausgenommen, einfach wegzugehen, wenn ihm die neugierigen Nebenfrauen lästig wurden. »Ja, das würde ich«, erwiderte er. Mallayur führte eine gute Klinge, besser als so mancher gestandene Krieger. Aber das hatte nicht viel mit dem zu tun, wozu einer der Zehn imstande war.
»Er scheint in deiner Gegenwart befangen zu sein«, wandte
sie sich wieder an Mallayur. Sie wickelte seinen Kinnbart um den Zeigefinger und zog so fest daran, dass es ihm ein gequältes, aber seliges Lächeln entlockte. »Lass uns bitte allein.«
»Wie du willst.« Mallayur schenkte ihr einen fast schüchtern wirkenden Kuss, machte kehrt und verschwand im Schatten des Pfeilergangs. Geeryu schritt zu einem Teich, der von einer niedrigen Mauer umsäumt war. Ihr Gewand umflatterte wiegende Hüften, die sich unter dem fein gewebten Stoff abzeichneten. Es fiel Anschar schwer, den Blick davon loszureißen. Er folgte ihr, da der Befehl, wenngleich unausgesprochen, deutlich war. Sie ließ sich auf der Einfassung nieder, schlug ein Bein über das andere und klopfte neben sich.
»Setz dich. Vielleicht legst du ja jetzt deine Wortkargheit ab? Ich will dir nichts Böses.«
Anschar hockte sich auf das Mäuerchen. Als er sie ansah, zuckte er zurück. Um ihre Pupillen lagen silberne Ringe. Eine solche
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