Das gläserne Tor
zurückholen. Das war vor langer Zeit, vor Hunderten von Jahren. Damals entstand aus der Suche nach den besten Kämpfern die Kriegerkaste der Zehn. Aber es half nichts, die Götter kehrten nicht zurück, und das Ritual verlor sich wieder. Aber die zehn Krieger blieben und wurden zu dem, was sie heute sind: die Leibwächter des argadischen Großkönigs.« Erregt sprang Madyur wieder hoch und stapfte durch den Raum. »Der letzte Zweikampf zu Ehren der Götter liegt einige Jahrzehnte zurück. Mallayur sagt, wir müssten den Göttern wieder das Blut eines Kriegers opfern. Das ist aber nur ein Vorwand! In Wahrheit will er zeigen, dass er jetzt den besten Krieger hat. Er will mich damit demütigen – mich, den Meya! Diese verdammte Wette um Anschar war von langer Hand vorbereitet. Nur darauf hat er es abgesehen. Wie konnte ich so dumm sein?«
»Was hat Mallayur getan?«, wagte Grazia zu fragen.
»Er hat einen der Zehn zum Zweikampf herausgefordert!«
Er deutete zur Tür. »Anschar wird gegen den Krieger kämpfen, den ich da draußen zu deiner Bewachung abgestellt habe.«
»Gegen Darur?«, fragte sie entsetzt.
»Gegen Darur.«
»Aber das ist ja … abscheulich! Ein Menschenopfer?« Ihr wurde übel, wenn sie nur an den Blutgestank dachte, dem sie im Tempel ausgesetzt gewesen war. Dennoch, so verwunderlich war es im Grunde nicht. Sie durfte nicht vergessen, dass die argadische Kultur nicht unähnlich den bronzezeitlichen Hochkulturen war, und dort waren Menschenopfer, wie man annahm, alles andere als unbekannt. Schon die Bibel berichtete davon, dass Menschen dem Gott Baal dargebracht worden waren, und auch die Hinwendung vom menschlichen zum tierischen Opfer, wie es bei den Argaden geschehen war, war den Archäologen bekannt.
Friedrich oder mein Vater sollten sich das anhören, dachte sie und nahm sich vor, alles zu notieren.
»Wir wissen längst, dass ein Menschenopfer nichts bewirkt«, sagte Madyur. »Das mögen die Götter nicht. Es ist etwas ganz anderes als ein Tieropfer. Aber jetzt, da die Not immer größer wird, dürfte es in der Priesterschaft Zustimmung finden. Es könnte dieses Mal ja etwas bewirken.«
Grazia nickte langsam, obwohl ihr danach war, wild den Kopf zu schütteln. All das, was ihr in den Sinn gekommen war, schwand angesichts der Furcht, die sich wie eine Nadel in ihren Kopf bohrte. Die Furcht um Anschar. »Wer, glaubst du, wird gewinnen?«
»Anschar schätze ich als stärker ein. Aber es lässt sich unmöglich sagen. Bei Inar, ich weiß wirklich nicht, wessen Tod mich stärker träfe. Doch genug davon.« Er ging noch einmal zum Bad, schob den Vorhang beiseite und blickte hinunter. »In ein paar Tagen komme ich wieder. Vielleicht hast du es ja
bis dahin geschafft.« Er ließ den Vorhang fahren und wandte sich zur Tür.
»Bitte warte!«, rief Grazia. »Ich möchte Anschar wenigstens noch einmal sehen. Bitte gestatte es.«
Er zögerte. »Er ist in Heria. Wie soll das möglich sein? Selbst wenn ich das zuließe, was nicht in meiner Absicht liegt, würde Mallayur dich jetzt sicher nicht mehr zu ihm lassen.«
»Aber es kann doch nicht sein, dass Anschar vielleicht stirbt, ohne dass ich ihn noch einmal sehen konnte?«
»Wieso denn nicht?«, fragte er verständnislos. »Verabschiedet habt ihr euch doch längst.«
»Lass mich wenigstens bei diesem Zweikampf zusehen.« Hatte sie das wirklich gesagt? Zusehen? Bei einem solchen Gemetzel? Vielleicht sehen, wie er unterlag? Sie schüttelte sich. Aber hier zu sitzen und nichts zu wissen, war noch unerträglicher.
»Die Arena befindet sich innerhalb des Palastgeländes von Heria. Es wäre mir nicht recht, dich dorthin mitnehmen zu müssen.«
Sie neigte sich etwas vor und sagte verschwörerisch: »Aber es würde meine Aufgabe, das Becken zu füllen, bestimmt erleichtern.«
In Madyurs Gesicht hob sich belustigt ein Mundwinkel. »Das hast du dir ja fein ausgedacht, du kleine Erpresserin. Also gut, ich nehme dich mit.«
Grazia murmelte einen Dank, den er nicht beachtete, denn schon war er draußen. Schief lächelte Fidya sie an.
»Du bist ja ganz verwirrt. Ich weiß schon, du magst Anschar.«
»Wieso fände der König den Tod des einen so schlimm wie den des anderen? Anschar ist jetzt Mallayurs Mann. Müsste er da nicht hoffen, dass Darur gewinnt?«
Das Vögelchen kehrte zu ihr zurück und ging vor ihr in
die Knie, als sei sie ein Kind, das sich erschrocken hatte. Die zarten Hände berührten ihre Schenkel und streichelten sie beruhigend. »Madyur ist
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