Das gläserne Tor
hastig und tupfte sich die Augen trocken.
»Was plagt dich, Herrin?«
»Heimweh.« Nicht nur das, fügte sie in Gedanken an Anschar hinzu. Nicht nur das … »Hast du nie Heimweh?«
»Du meinst, nach Temenon?« Sichtlich mit Unbehagen rutschte er auf seinem Platz herum. Er mochte es nicht, über sich zu sprechen, und dass er ihr seine Geschichte in allen Einzelheiten erzählt hatte, fand sie immer noch bemerkenswert. Weder vorher noch nachher hatte er sich zu so vielen Worten hinreißen lassen. »Selten, Herrin. Das ist nur noch wie ein alter Traum. Man vergisst so vieles mit der Zeit.«
Sie fragte sich, ob es ihr ähnlich erginge, sollte sie in dieser Welt auf ewig gestrandet sein. Nein, daran durfte sie nicht einmal denken. Ein Luftzug ließ die Federn erzittern, als die Tür aufschwang. Die wie stets in Gelb gewandete Nebenfrau des Königs rauschte in den Salon, begrüßte Grazia überschwänglich und bestaunte den Fächer. Diesmal jedoch war sie nicht allein. Der Meya stand im Türrahmen. Henon war aufgesprungen, hatte sich ihm zu Füßen geworfen und wurde von dem Leibwächter des Königs beiseitegescheucht. Er flüchtete sich hinaus auf den Korridor.
»Sieh nur.« Fidya pflückte den Fächer aus Grazias Hand und wandte sich zu ihm um. »Verscheucht man damit Fliegen? Hier oben haben wir doch kaum welche.«
Grazia umfasste ihr Handgelenk und zeigte ihr, was sie damit tun musste. Fidya wedelte ungeschickt vor ihrem Gesicht herum und betastete ihren Kopfputz.
»So viel Wind zu machen, ist nicht gut, wenn man eine Federnhaube trägt. Und so angenehm finde ich es auch nicht.«
»Ich schon. Weißt du, bei uns ist es selten so heiß wie hier.«
»Fidya.« Der Meya winkte sie beiseite und näherte sich Grazia, die den Fächer wieder in Empfang nahm und sich verneigte. »Wie geht es dir?«
»Sollte es mir gut gehen, wenn ich eingesperrt bin?«
»Das sagst du jedes Mal. Und ich kann darauf nichts
anderes erwidern, als dass es sein muss.« Er ging zum Bad, schlug den Vorhang beiseite und blickte die Stufen hinab. »Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst das Becken bis an den Rand füllen?«
»Es ist zu groß. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.«
»Aber du kannst mehr! Und das weißt du auch. Es ist eine Frage der Übung.«
Sie wollte einwenden, dass er das nicht wissen konnte, aber er hatte recht. Sie konnte sehr viel leichter und sehr viel mehr Wasser schaffen als zu Anfang. Wozu sie wirklich imstande war, ließ sich noch gar nicht absehen, und es war verständlich, dass es ihn brennend interessierte. Verlegen fächelte sie sich Luft zu. Sie war bockig, denn den Gedanken, auf ewig zum Wassermachen verdammt zu sein, fand sie grässlich. Und das wusste er vermutlich recht genau. Wenn sie nicht den Wunsch verspürte, das Wasser fließen zu lassen, floss es eben nicht.
Er hielt den Vorhang in der erhobenen Faust. Gleich würde er ihn herunterreißen. Doch dann schleuderte er ihn nur von sich und stapfte in die Mitte des Wohnzimmers, die Hände im Rücken verschränkt. Er war wütend. Auf sie? Grazia hielt den Fächer still.
»Gib mir Wasser!«, befahl er und streckte auffordernd die Hand aus. Ohne nachzudenken, machte sie eine Bewegung, als wolle sie etwas wegwerfen. Wassertropfen spritzten von ihren Fingern bis auf seine Handfläche. Er blickte verblüfft darauf und schüttelte die Hand aus. »Ein feines Kunststückchen, ja. Aber das ist nicht das, was mein leidendes Land benötigt. Das ist es nicht!«
Die letzten Worte hatte er geschrien. Selbst Fidya blickte betreten zu Boden. Er atmete tief ein und aus und spreizte die Arme.
»Verzeih. Ich könnte heute ein Sturhorn zerreißen, so
wütend bin ich. Keine gute Voraussetzung, um herzukommen.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Grazia. Langsam wedelte sie wieder mit ihrem Fächer. Dass nicht ihr allein sein Zorn galt, erleichterte sie ein wenig.
Madyur zog einen der Stühle unter dem Tisch hervor und setzte sich. Müde stützte er den Ellbogen auf die Tischplatte und strich sich über die Stirn, obwohl seine grauen Haare von einem mit Türkisen verzierten Stirnband gebändigt wurden. »Anschar hat dir vielleicht irgendwann von den alten Zweikämpfen zu Ehren der Götter erzählt.«
Das hatte er, aber sie war viel zu beunruhigt, um es zu bestätigen. Eine böse Vorahnung beschlich sie.
»Die Götter lieben den Duft des Tierblutes«, sagte er. »Als sie gingen, entstand der Brauch der Zweikämpfe, weil man hoffte, das edlere Menschenblut würde sie
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