Das gläserne Tor
Steg.
»Komm.« Fidya nahm ihre Hand. »Worauf wartest du?«
»Ich gehe da nicht durch.«
»Aber es bringt Glück.«
»Ach, das auch? So viel Glück ist mir nicht geheuer.« Entschieden schüttelte Grazia den Kopf. Dann wandte sie sich an die beiden Leibwächter. »Wäre einer von euch so freundlich und würde mich tragen?«
»Aber es bringt wirklich Glück, Herrin«, wandte Buyudrar ein.
»Bitte!«
Ergeben nickte er und hob sie auf die Arme. Krampfhaft hielt sie sich an ihm fest und raffte ihren Mantel. Das frische Blut verströmte nur einen leichten Geruch, trotzdem wurde ihr wieder übel, und sie war froh, dass Buyudrar sie fast bis über den ganzen Steg trug. Am Tempel stellte er sie bedächtig auf die Füße. Hier war der Boden rund um die Pfeiler, welche das Götterpaar zeigten, mit Blüten der Heria bedeckt. Der Meya höchstselbst wirbelte die Blüten auf, als er auf sie zukam. Er war nass von Kopf bis Fuß, vermutlich war er in den See gestiegen, um sich zu säubern; dennoch waren die Blutspuren auf seinem Rock unübersehbar. Er ergriff ihre Hand und führte sie ins Innere des Tempels, wo die Priester und Gäste an den Wänden Aufstellung genommen hatten und schweigend warteten. Nur hier und da war leises Gemurmel zu vernehmen. Grazia war es durchaus nicht unangenehm, an der Hand des Meya derart auf den Präsentierteller geführt zu werden. Jeder starrte sie an, und jeder schien sich zu fragen, wer sie war und woher sie kam. Und wie es sein konnte, dass die Kaskade ihrer offenen Haare so leuchtend rot war. Sie fragte sich, ob ihr Kleid ordentlich saß, und konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, einen prüfenden Blick an sich hinabzuwerfen. Was wohl Friedrich sagen würde, wenn er sie jetzt sähe?
Als Mallayur hervortrat, ließ Madyur sie los. Der König von Hersched verneigte sich. »Ich bin begierig auf das, was sie uns zeigen wird«, sagte er beflissen. Trotz seines prachtvollen, reichlich mit Goldstickereien verzierten Mantels und der Ähnlichkeit mit seinem Bruder wirkte er weniger königlich als dieser in seinem schlichten blutbesudelten Rock.
»Vor allem bist du begierig, mir deinen neuen Leibwächter vor die Nase zu halten«, erwiderte Madyur kühl. »Ja, ja, ich habe es begriffen, er steht dir gut. Das ist es doch, was du mir zeigen willst, oder?«
»Edler Meya, was erregt daran dein Missfallen? Die höchsten Edlen haben Leibwächter bei sich. Das ist üblich. Muss ich mich für meinen rechtfertigen? Muss ich etwa vermuten, du hättest ihn gerne wieder?«
»Natürlich hätte ich das. Aber er gehört dir. Ich mache dir deinen Besitz nicht streitig.«
Mallayur legte den Kopf schräg, wie um seine Worte anzuzweifeln, dann winkte er Anschar heran. »Zeig, dass du ihm nicht mehr gehörst.«
Entweder war Anschar unterwiesen worden, oder es war ihm ohnehin klar, was sein Herr von ihm erwartete. Er trat vor den Meya, verneigte sich und streckte, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, die rechte Hand vor. Madyur schnaubte zornig, während Mallayur zufrieden in sich hineinlächelte. Die Umstehenden reckten die Hälse und holten hörbar Luft. Gab es da etwas anderes zu sehen als die vier Krallen des Schamindar? Auch Grazia stellte sich auf die Zehenspitzen, doch sie hatte Madyurs Rücken vor sich.
Er befahl seinem früheren Leibwächter, sich zu entfernen. Anschar machte zwei Schritte rückwärts, und der Meya ergriff wieder ihre Hand.
»Edle Männer und Frauen Argads«, rief er mit kräftiger Stimme, die ganz den Großkönig verriet. »Wie ihr alle wisst, war die Aussendung mehrerer Suchtrupps, die den letzten Gott bringen sollten, bisher ohne Erfolg. Mein Trupp wurde aufgerieben, von den anderen hat man noch nichts gehört. Das bedeutet zu diesem Zeitpunkt zwar nicht viel, aber wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass die Suche misslingt. Die Wüste ist groß, wir wussten das. Nun hat sich möglicherweise eine andere Art der Rettung aufgetan.«
Er machte eine kunstvolle Pause. Die Versammelten hingen an seinen Lippen. Vergessen war, wie es schien, die kleine Auseinandersetzung des Meyas mit seinem Bruder.
»Dies ist Grazia, eine fremde Frau aus einem fernen Land. Nein, Temenon ist es nicht. Wir wissen nicht, wo sie herkommt. Wir wissen aber, die Götter haben sie geschickt. Sie kam wie ein Zeichen, dass sie uns nicht vergessen haben. Und ich habe euch hergerufen, um dabei zu sein, wie diese Frau ein göttliches Wunder wirkt.«
Grazia spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht
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