Das gläserne Tor
wiederholen. Auf einem mit Blüten bestreuten Bett würden sie niedersinken, so hatte es Fidya mit eifersüchtigem Seufzen erklärt, und unter den Blicken der Priester die Vereinigung vollziehen. Grazia wusste nicht, was sie barbarischer finden sollte: eine fast öffentliche Kopulation oder das dazugehörige Tieropfer.
Die Anwohner hatten ihre Häuser mit gefärbten Grasbändern geschmückt, standen auf den Dächern ihrer Häuser und säumten die Straße. Auch in ihren Haaren flatterten bunte Bänder. Wer es sich leisten konnte, hatte Ziervögel gekauft und ließ sie nun fliegen, als Zeichen der Freude über die Liebe des Götterpaares. Überall flogen die bunt schillernden Vögel durch die Luft. Die Stimmung war fröhlich. Kinder umsprangen das ebenfalls geschmückte Sturhorn, das sich in der Mitte der Prozession bewegte, und kreischten vor Vergnügen, während sie versuchten, eines der Bänder zu erhaschen.
»Warum tun sie das?«, fragte Grazia. Sie genoss das Vorrecht, in einer Sitzsänfte getragen zu werden, wie die allerhöchsten Würdenträger der Hochebene.
»Ein Band des Opfertieres zu besitzen, bringt Glück«, erwiderte Fidya, die an ihrer Seite saß.
»Augenblick! Du meinst, das Sturhorn wird geopfert?«
»Es ist das größte und schönste Sturhorn, das aufzutreiben war. Falls man Sturhörner schön nennen kann.«
Grazia bewegte ihren Grasfächer. Bei dieser Hitze einer solch ausufernden Opferung zusehen zu müssen, würde noch schlimmer werden, als es ohnedies war. Sie wagte einen Blick in den Himmel. Blau, immer nur blau. Daheim hatte sie sich gefreut, wenn bei Festen und Paraden Unter den Linden die Sonne schien. In Argad war immer Kaiserwetter. Dass es Herbst war, wusste sie nur, weil man es ihr gesagt hatte. In den Wochen, seit sie hier war, hatte sie ganze zwei bewölkte Tage erlebt, und in dieser Zeit hatte es drei Stunden geregnet. Vielmehr genieselt. Es war kaum der Rede wert gewesen, aber sie hatte von ihrer Terrasse aus gesehen, wie die Leute auf den Dächern ihrer Häuser die Sonnensegel abgenommen hatten, um die Gesichter in den Regen zu strecken.
Beidseits des Tragstuhls liefen die beiden Leibwächter
des Königs. Die letzten zwei der Zehn brachten Grazia und Fidya neugierige Blicke ein. Für die Zuschauer interessanter war jedoch der Mann, der nicht weit voraus neben der Sänfte des Königs von Hersched schritt. Er trug, wie bei seinem Zweikampf, den Brustpanzer, das Cingulum mit den silbernen Schlangen und denselben roten Rock. Nur seine Arme waren diesmal unbedeckt, stattdessen lagen oberhalb der Ellbogen silberne Armreife. Auch den roten Speer hatte er in der Hand. Mallayur legte Wert darauf, dass jeder den Sieger des Zweikampfes erkannte.
Zwischenfälle gab es keine. Ein einziges Mal, als die Prozession ins Stocken geriet, musste Anschar mit dem Speerschaft einen Mann zurückdrängen, der offenbar nicht rechtzeitig erkannt hatte, wem er gegenüber stand. Diese Gelegenheit nutzte er, um sich umzudrehen. Grazia glaubte, dass er Ausschau nach ihr hielt, und ihr Herz schlug höher, aber er entdeckte sie nicht und setzte seinen Weg fort.
»Ach ja«, seufzte Fidya. »Ich kann verstehen, warum du dich um Anschar sorgst. Er ist ein so schöner schrecklicher Mann. Wenn er nur nicht diesen roten Rock tragen müsste. Das herschedische Rot steht ihm nicht, finde ich.«
»Nicht?«
»Als Argadin bin ich wahrscheinlich voreingenommen.« Das Vögelchen strich sich über den leicht gewölbten Bauch. »Ich könnte etwas essen. Oh, und ich habe schrecklichen Durst!«
Grazia ließ sich nicht zweimal bitten. Die anderen Sänfteninsassen hatten ihre Sklaven, die nebenher liefen und sie mit Wasser versorgten, sie jedoch hatte nur einen Becher mitgenommen, den sie aus der Polsterritze zog. Genüsslich stöhnte Fidya, nachdem sie getrunken hatte. Dann waren sie auch schon am See. Die Träger stellten die Sänfte ab und halfen ihnen, auszusteigen. In dem nun folgenden Durcheinander,
als die etwa fünfzig Gäste und zweihundert Bediensteten gute Plätze suchten, um der Opferung zusehen zu können, standen sich Anschar und die beiden anderen Leibwächter gegenüber. Sie musterten sich, als seien sie sich fremd.
»Bitte verachtet mich nicht dafür«, hörte Grazia ihn sagen. »Ich wollte es nicht.«
»Das wissen wir.« Buyudrar nickte und deutete auf seinen Kameraden Schemgad. »Aber wer wird der Nächste sein? Er oder ich?«
Die Antwort blieb aus, denn Anschar musste sich zu Mallayur gesellen, der
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