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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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den künstlich gelockten Haaren der Scheracheden ein, die gegen seinen Hals schwangen. »Das da eben, das war nur eine Täuschung.«
    »Schweig!«, donnerte Madyur. »Was fällt dir ein?«
    Der Scherachede schien unter dem Schrei zu schrumpfen und beeilte sich zu versichern, dass es ihm leidtat. Madyur verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander. Es war ihr ungeheuer peinlich, dass sie ihn vor all diesen
Leuten blamierte. Andererseits war es seine eigene Schuld. Nur, welcher König sah das schon ein?
    »Versuch es noch einmal.«
    Sie tat es. Das Wasser umspülte ihre Zehen, doch mit einem Mal schienen sich Nadeln in ihre Schläfen zu bohren. Je mehr sie sich zu konzentrieren versuchte, desto schlimmer wurde es. Ihr schwindelte. Rot leuchtende Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen.
    »Versuch es!«, schrie Madyur zum wiederholten Mal. »Es muss gelingen!«
    »Es geht ihr schlecht«, hörte sie Sildyu sagen. »Sag ihr, sie soll aufhören.«
    Darauf achtete er nicht. »Grazia, streng dich an. Es wird dir gelingen.«
    Sie versuchte den Kopfschmerz zu ignorieren. Aber dass ihr schwarz vor Augen wurde, konnte sie nicht verhindern. Was dann durch ihren Schädel fuhr, war keine Nadel, eher ein Speer. Ein Schrei gellte – ihr eigener. Sie riss die Hände an die Schläfen. Die Wände wankten, und dann sackte sie auf die Knie. Warum hielt der Meya sie nicht fest? Warum halfen sie ihr nicht?
    »Bleib stehen!«, schrie eine empörte Stimme, die sie Mallayur zuordnete. Ein Befehl, der nicht ihr galt. Eine Hand umfasste ihren Nacken, eine andere stützte ihren Rücken. Es war Anschar. Sie musste ihn nicht sehen, um das zu wissen.
    Er nahm sie auf die Arme und trug sie irgendwohin, wo es weich war. Sie schaffte es, die Augen einen Spalt weit zu öffnen, sah durch den Schleier ihrer Wimpern sein besorgtes Gesicht. Wie es schien, lag sie in einer Nebenkammer. Hoffentlich nicht dort, wo der Meya mit seiner Frau später liegen würde, ging es ihr durch den Kopf. Anschars Blumenohrring schaukelte, als er zurück über die Schulter blickte. Da war die Priesterin, und da war der Meya. Grazia hörte, wie er Anschar
befahl, zu verschwinden. Anschar ließ sich Zeit. Er neigte sich herab, berührte ihre schmerzende Stirn und flüsterte ihr etwas zu, das sie nicht verstand. Erneut rief jemand seinen Namen, und endlich erhob er sich. Mallayur stand in der Tür. Madyur fasste Anschar am Arm, doch der entzog sich ihm mit einem Ruck und funkelte ihn erbost an.
    »Sie hätte sterben können!«, schrie er. »Hast du wirklich geglaubt, sie könne den letzten Gott ersetzen?«
    Anschar, schweig, mach sie nicht wütend, wollte sie sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Dunkelheit griff nach ihr. Vergessen waren die Kopfschmerzen, vergessen ihr Versagen. Wieder einmal musste sie mit Furcht um ihn in den Schlaf gleiten.

    Schlag um Schlag fraß sich in seine Haut, und der Schweiß, der über die Wunden lief, brachte sie zum Glühen. Anschar hatte seine Atmung dem Rhythmus der Peitsche angepasst. Ihre Bisse trafen ihn so gleichmäßig wie die Wellen das Ufer des Tempelsees. Es machte den Schmerz erträglich und versetzte ihn in die glückliche Lage, an etwas anderes denken zu können. Ob es Grazia wieder gut ging? Viel zu schnell hatte er von ihr lassen müssen. Diese verfluchte Gabe, die weder ihr noch Argad etwas nützte, brachte sie in Gefahr, und er konnte ihr nicht helfen. Das war schlimmer als die Strafe dafür, sich so unbotmäßig aufgeführt zu haben. Das hier – was war das schon? Etwas, das Mallayur sicher längst hatte tun wollen. Egnasch sowieso; der Aufseher schlug recht einfallslos, aber mit Leidenschaft zu. Nun hatten sie endlich ihren Grund.
    Nach einiger Zeit blieben die Schläge aus. Es war still, nur noch sein Keuchen erfüllte den Raum und prallte von den Felswänden an seine Ohren. Er hatte nicht geschrien. Er hatte
auch nicht unter sich gelassen. Aber vielleicht würde er den Boden unter den Füßen verlieren. Seine Knie zitterten, und er konnte nichts daran ändern. Seine Beine kamen ihm vor wie zwei dürre Schilfrohre im Wind.
    Als die Peitsche unverhofft erneut zuschlug, warf er den Kopf in den Nacken und stieß pfeifend den Atem aus. Vielleicht musste er schreien, damit es aufhörte. Vielleicht in die Knie gehen, damit sie sich daran ergötzten, wie er mit gestreckten Armen am Pfahl hing. Er umklammerte das dicke, vom Blut und Schweiß vieler Sklavenkörper glatt polierte Holz und drückte seine Armmuskeln

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