Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
wich. Sie hatte gewusst, was auf sie zukam, aber nicht damit gerechnet, so zur Schau gestellt zu werden. Und das, was er sagte, behagte ihr noch weniger. Als ob ich die Hochebene retten könnte!, dachte sie. Was war denn das für eine Bürde, die ihr da ungefragt aufgeladen wurde? Ein Wunder, ja, das war ihre Gabe zweifellos, aber musste man das so aufbauschen?
    »Lass das Wasser fließen, Grazia.«
    Nun, das sollte kein Problem darstellen. Unangenehm war es ihr trotzdem. Sie streckte einen Arm aus und hob die Handfläche. Aber sie zögerte. Was, wenn es jetzt nicht gelang? Sie suchte Anschars Blick, und der senkte langsam die Lider, wie um sie zu ermutigen. Tief atmete Grazia ein. Es wurde kühl an ihrer Hand, als streiche ein Luftzug darüber. Das Wasser floss heraus. Es plätscherte auf den steinernen Boden, kroch durch die Fugen und breitete sich aus, bis es sich den ersten Zehen näherte.
    Eine Frau stieß einen quietschenden Schrei aus, raffte ihr Kleid und machte einen Satz rückwärts. Es sah aus, als hätte sie eine Maus gesehen. Auch die anderen wichen, wenngleich weniger theatralisch, vor dem Wasser zurück und starrten Grazia entsetzt an. Anschar verzog belustigt einen Mundwinkel.
    »Ihr braucht keine Angst zu haben!«, rief Madyur. »Es ist nur Wasser.«
    »Eine Nihaye!«, schrie jemand.
    »Wir haben eine Nihaye unter uns!«

    Mit erhobenen Händen brachte Madyur die Menge zum Schweigen. Grazia hatte die Hand inzwischen sinken lassen. Sie stand in einer Wasserlache, und es fühlte sich nicht so an, als hielten die Bastschuhe dicht.
    »Ja, wahrscheinlich ist sie eine Nihaye«, sagte er. »Ganz genau wissen wir es nicht, da sie es selbst nicht zu sagen vermag.«
    »Und was soll das bringen?«, meldete sich Mallayur zu Wort. Er tat nachgerade so, als sei er nicht selbst begierig auf dieses Wunder gewesen. Mit Schrecken dachte sie an jenen Tag im Keller seines Palastes zurück, als er sie auf abscheuliche Art gezwungen hatte, den Pegel eines Kühlbeckens steigen zu lassen. »Soll sie mit ihren Händen das ganze Hochland bewässern?«
    »Möglicherweise ja. Sie hat die Kraft des Gottes. Die Kraft, deretwegen wir ihn gesucht haben. Er ist nicht da – sie schon!«
    »Aber im Gegensatz zu ihm ist sie schwach. Er beherrscht seine Kraft, sie nicht.«
    »Woher willst du das wissen?«, fragte Madyur lauernd. Es war still geworden, so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Mallayur schien an einer Antwort zu arbeiten, die nicht verriet, dass er Grazia für kurze Zeit in der Gewalt gehabt hatte. Bevor er etwas sagen konnte, war Madyur an ihn herangetreten.
    »Du hättest sie gern für dich, mach mir nichts vor.« Er sprach leise, aber Grazia verstand jedes Wort. »So wie du Anschar haben wolltest, nicht wahr, kleiner Bruder?«
    Dies vor allen Leuten zu sagen, galt sicherlich als grobe Beleidigung. Mallayur war bleich geworden. Er schwieg, und Madyur kehrte zu ihr zurück.
    »Mach weiter, Grazia. Mach, so viel du kannst. Du kannst mehr als das.«

    Sie seufzte auf. Er hatte ihr versprochen, nicht mehr als nötig zu fordern, aber offenbar fühlte er sich von seinem Bruder herausgefordert. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Sie streckte die Hände aus. Das Wasser plätscherte auf die Fliesen. Weiter, nur weiter, ermahnte sie sich, doch bald schon fühlte sie sich ermattet, und der Fluss versiegte. Sie keuchte auf, blinzelte und musste sich zusammenreißen, um nicht zu schwanken. Ein Raunen ging durch die Versammelten. Sildyu kam herangelaufen und schien ihren Gemahl ansprechen zu wollen, doch dann schüttelte sie den Kopf und kehrte wieder auf ihren Platz zurück.
    »Versuch es!«, drängte Madyur erneut.
    Grazia senkte die Lider und versuchte nicht an die vielen Menschen zu denken, die sie beobachteten. Sie musste es machen wie zu Anfang, als sie an den letzten Gott gedacht hatte, an seine Umarmung, an die unglaubliche Wassermenge, die er durch sie hindurchgejagt hatte. Ihr Kopf begann zu schmerzen, sodass sie mit den Fingern gegen die Schläfen drückte. Denk daran, du brauchst nicht zwingend die Hände, ermahnte sie sich. Mach Wasser. Tu es einfach.
    Ihr Gewand wurde nass. Grazia stellte sich vor, wie das Wasser sich in der Halle ausbreitete. Wie es bis hinaus auf den Portikus lief, gar in den See. Doch als sie die Augen öffnete, war nichts weiter passiert, nur dass ihre Kopfschmerzen zugenommen hatten. Madyur schnaufte ungeduldig.
    »Sie ist keine Nihaye«, warf ein Mann mit

Weitere Kostenlose Bücher