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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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zum Steg drängte, wo sich das Sturhorn erhob, die Köpfe der Versammelten überragend, und nervös das wuchtige Haupt hob und senkte. Um das abgestumpfte Horn lag ein Geschirr, an dem mehrere Priester zerrten, um das Tier ruhig zu halten. Grazia ließ sich von Fidya in die vorderste Reihe ziehen, obwohl ihr nicht der Sinn danach stand, dem blutigen Schauspiel zuzusehen. Nur wenige Meter entfernt stand Mallayur, dicht hinter ihm Anschar. Heute prangte an seiner Schläfe ein dicker Bluterguss.
    Der Meya ließ den Blick über die Versammelten schweifen. Er nickte zufrieden, als er Grazia entdeckte. Dann drehte er sich zu Sildyu um. Für einen Moment vergaß Grazia das bevorstehende Opfer, als sie die Pfauenfedern an seinem Mantel sah. Dicht an dicht waren sie am unteren Saum auf den glänzenden hellblauen Stoff aufgenäht, mit den Augen nach unten – die Federn jenes Pfaus, den Henon von seiner Reise zur Pfaueninsel mitgebracht hatte. Ein unverhoffter Gruß aus der Heimat.
    Die Priester umringten ihn und schwangen ihre Rasseln. Es war keine Musik, es war ein rhythmisches Geräusch, das an einen Trommelwirbel erinnerte. Auf beiden Händen trug Sildyu ein Schwert heran. Madyur zog es aus der Scheide und reckte es in den Himmel. Es war ohne Zweifel ein schönes,
furchterregendes Schwert, wirkte aber fast zu klein für ein so gewaltiges Tier. Unzählige Seile waren um den massigen Hals geschlungen, ebenso um den Schwanz, der sicherlich mehr als zwei Meter lang war. Sklaven standen an den Seilen und machten sich bereit, das Tier im Zaum zu halten. Madyur legte den Mantel ab und gab ihn einem Priester. Nur mit einem weißen Rock bekleidet, stellte er sich breitbeinig unter den Hals des Sturhorns und richtete die Schwertspitze auf eine dicke Ader. Sichtbar pulste das Blut hindurch. Das Tier hatte die Augen aufgerissen, als ahne es den Tod, und schnaubte durch die Nüstern. Mit beiden Händen packte Madyur den Schwertgriff und stieß die Klinge nach oben.
    Seine Armmuskeln traten hervor. Er entblößte die Zähne und verzog das Gesicht vor Anstrengung, die Waffe tief in den Hals zu treiben. Das Sturhorn gab ein Kreischen von sich, das in den Ohren schmerzte. Es riss den Kopf hoch, soweit die Fesseln es erlaubten, dabei glitt die Klinge heraus. Ein Blutschwall ergoss sich über die Brust des Meya, besprengte sein Gesicht und spritzte auf die Gewänder der Priester. Grazia presste die Hand vor den Mund, wandte sich ab und schob sich durch das Gedränge. Eine unauffällige Stelle, sich zu übergeben, gab es nicht, also krümmte sie sich, wo sie stand, und gab das Frühstück von sich. Tränen traten ihr in die Augen.
    Dicht vor sich sah sie einen roten Rock. Musste er sie in diesem Zustand sehen? Sie zog aus dem Dekolleté ihr Schweißtuch und richtete sich auf. Anschar nahm es ihr aus der Hand und wischte über ihren Mund.
    »Was hast du auch hier zu suchen?«, tadelte er sie. »Das ist nichts für dich.«
    »Der Meya wollte es so. Meine Idee war das bestimmt nicht.« Ihre Finger zitterten, als sie das Tuch an sich nahm. Hinter sich hörte sie das ersterbende Brüllen des Tieres und
ein dumpfes Geräusch, das den Boden erzittern ließ, als sei es umgefallen. Die Menge jubelte. Grazia drehte sich nicht um. Ob es jetzt so etwas wie Haruspizien gab?
    »Was passiert mit dem Kadaver? Schneidet man ihn auf und begutachtet seine Eingeweide?«
    »Nein, wozu denn das? Macht man das bei euch? Er wird gleich auf dem Tempelgelände vergraben. Ich muss wieder zu Mallayur, bevor er merkt, dass ich nicht hinter ihm stehe. Hier!« Er drückte ihr etwas in die Hand. Verwundert befingerte sie eine kleine flache Muschel. »Du musst sie in den See werfen. Jeder tut das, hat man dir das nicht erklärt?«
    »Nein. Wozu ist das gut? Lass mich raten: Man soll heute nicht an den Fluch denken.«
    »So ist es. Du bist klug, Feuerköpfchen.« Er strich ihr mit dem Finger über die Wange. Als er dabei wie zufällig ihren Mundwinkel berührte, öffneten sich ihre Lippen. »Ich muss gehen«, murmelte er heiser und begab sich zu seinem Herrn. Grazia blieb, wo sie war, und betrachtete die Muschel, die wie geschliffen und poliert glänzte. Nein, das schöne Stück würde sie ganz sicher nicht in den See werfen, also wickelte sie es in ihr Tüchlein und schob es in ihren Ausschnitt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Sturhorn von sicherlich mehr als zwanzig Sklaven fortgeschleift wurde. Durch die Blutlache schritten die fünfzig Männer und Frauen auf den

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