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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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und tätschelte ihre Wange. Friedrich sah angesichts der Aufgabe, die vor ihm lag, regelrecht verzweifelt aus. Grazia nahm hastig die Tasche an sich und folgte ihrer Mutter in ihr Zimmer. Im Vergleich zu dem Schlafzimmer, das sie noch bis vor Kurzem bewohnt hatte, kam es ihr klein und muffig vor. Die holzvertäfelten Wände wirkten erdrückend. Das Fenster – so klein! Und erst das Bett. Es war das Bett eines Mädchens.
    »Ich brauche keine Hilfe«, sagte sie zu ihrer wartenden Mutter, die langsam nickte und das Zimmer verließ. Grazia drehte den Schlüssel um. Dann machte sie, dass sie aus den Kleidern kam, die ihr am Leib klebten. Sowie sie das geschafft hatte, war ihr gar nicht mehr so kalt. Aus dem Schrank holte sie ihren Morgenmantel und schlüpfte hinein. Von der Frisierkommode nahm sie ihren Schildpattkamm und fing an, die Haare zu entwirren. Der Mantel sprang auf und offenbarte einen weißen Körper, der einen seltsamen Gegensatz zu ihrem sonnengebräunten Gesicht bildete. Sie betrachtete ihre Brust und legte eine Hand darauf. Wäre jetzt irgendetwas anders, wenn sie sich Anschar hingegeben hätte? Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass er es war, der sie streichelte.

    Hör auf damit, ermahnte sie sich. Er ist so weit weg, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Es ist, als existiere er nicht.
    Sie schluckte schwer und machte sich daran, die Tasche zu leeren. Den blauen Mantel hängte sie auf einem Kleiderbügel an ihren Schrank. Aus der Frisierkommode holte sie eine Schere und schnitt die Lederrolle auf. Dort, wo die Papiere die Naht berührt hatten, waren sie aufgeweicht, aber im Großen und Ganzen waren sie trocken geblieben. Sie breitete sie auf ihrem Damenschreibtisch aus und beschwerte die Ecken. Als ihr die silberne Blume von Heria in die Hände fiel, hätte sie wieder weinen mögen. Auch wenn es sein verhasstes Sklavenzeichen gewesen war, so war es doch der einzige Gegenstand, den sie von ihm besaß. Sie drückte die Blume an die Lippen und legte sie auf den Nachttisch. Dann klopfte Adele auch schon an die Tür und rief, dass das Bad bereit sei. Grazia schlang den Morgenmantel fest um sich und begab sich in die Küche, wo es aus dem Blechzuber dampfte.
    Adele trug dicke Handtücher und Kernseife heran. »Ich kümmere mich um Ihre nassen Sachen.«
    »Aber nur um meine Kleider, Adele. Sonst rührst du in meinem Zimmer nichts an. Nichts! Hast du verstanden?«
    Das Dienstmädchen machte große Augen. »Ja, ja«, murmelte es und ging kopfschüttelnd aus der Küche. »Ist recht.«
    Grazia kauerte sich in den Zuber. Das Wasser war so heiß, dass sie glaubte, die Haut müsse aufplatzen. Sie schrubbte sich den argadischen Staub aus allen Poren. Nur die Haare zu waschen, dazu war sie zu erschöpft. Die Müdigkeit senkte sich wie Blei auf sie herab. Fast wäre sie im Zuber eingenickt, aber dann trocknete sie sich ab, schlüpfte in ihr Nachtkleid und schlich in ihr Zimmer zurück. Die nassen Sachen waren fort, ihre Andenken unberührt. Sie nahm den silbernen Anhänger, bog mit der Schere die Öse zusammen und fädelte ein dünnes Silberkettchen hindurch.

    »Was hast du denn da?«, fragte ihre Mutter, die eintrat, als sie sich die Kette um den Hals legte.
    »Oh, nur, äh, ein Andenken an jemanden, der mir geholfen hat.« Grazia war froh, dass sie niesen musste, so hatte sie einen Vorwand, sich dem Taschentuch zu widmen, und wenn es nur für ein paar Sekunden war.
    »So. Und wer war das?«
    Sie biss sich auf die Lippen. Ihr Gesicht war erhitzt, und das nicht nur vom Bad. Schnell schob sie sich unter die Bettdecke und zog sie bis zum Hals hoch. Währenddessen sah sie zu, wie ihre Mutter im Zimmer herumging und die fremden Sachen betrachtete, ohne sie anzufassen. Auch der Vater erschien, zwinkerte ihr beruhigend zu und sah sich um. Vom Schreibtisch nahm er eine Zeichnung und hielt sie vor sich.
    »Justus, du gehst«, sagte die Mutter, als sich auch der Bruder anschickte, neugierig herumzuschnüffeln. Von den Eltern unbemerkt, zog er eine enttäuschte Grimasse und trollte sich.
    »Was ist mit Friedrich?«, murmelte Grazia in den Samtvolant der Bettdecke.
    »Der wärmt sich gerade von innen«, sagte der Vater. »Er hat mich förmlich um einen Cognac angefleht. Adele hat ihm etwas zum Anziehen gegeben und bügelt seine Sachen auf. Und, nein, er hat noch nicht viel erzählt. Er stottert herum, und ich wüsste jetzt gern, wieso.«
    Er schloss die Tür. Das elterliche Tribunal hatte begonnen. Grazia

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