Das gläserne Tor
aus dem Gürtel und warf ihn fort. Augenblicklich gaben zwei Reiter ihren Tieren die Fersen und entrollten im Näherkommen Bündel aus Grasbändern. Die anderen hielten weiterhin die Waffen auf ihn gerichtet.
»Hände auf den Rücken«, befahl der Anführer. Anschar gehorchte. Ihm wollten vor Wut und Enttäuschung die Tränen kommen, als sich die Grasbänder um seine Handgelenke schlangen. Er musste die Zähne zusammenbeißen, um das Elend nicht in den Himmel zu schreien. Auch um seine Füße wickelten die Männer Grasseile, die sie unter dem Pferdebauch zusammenknoteten. Erst dann ließ der Rest des Trupps die Waffen sinken.
Es kam kein Wort mehr, weder von den Herscheden noch von Benedikt, der abseits stand. Aber er machte ein Zeichen: Er berührte seine Stirn, seine Brust, die Schultern und faltete die Hände. Damit wusste Anschar nichts anzufangen, aber er nickte ihm dankend zu. Im gleichen Augenblick zog ein Krieger am Zügel der Stute, sodass er sich nach vorn wenden musste. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Die Herscheden wandten sich jedoch nicht wieder dem Abhang zu. Sie nahmen den Weg, der in den Wald führte.
DER LETZTE GOTT
1
G razias Lunge schrie nach Luft. Ihre Hände reckten sich nach oben. Friedrichs Arm lag noch immer um ihre Taille. Doch sie sah ihn nicht, sie sah nichts als das kleine helle Rund weit oben – so weit entfernt. Sie presste die Augen zusammen und konzentrierte sich nur noch darauf, es zu ertragen. Ihre Finger glitten durch Wasserpflanzen.
Dann ein Windhauch. Grazia warf den Kopf zurück und sog rasselnd die kalte Berliner Luft ein.
»Weg! Weg von dem Licht, bevor es uns wieder hinunterzieht!«, schrie Friedrich neben ihr. Er stieß sie nach vorn, hin zum Steg. Fast blind tastete sie nach der Kante. Mehr konnte sie nicht tun, es war genug; die Anstrengung der Flucht machte sich bemerkbar. Der Steg knarrte, als Friedrich sich hochwuchtete. Er brauchte ewig, sie hinaufzuziehen. Ihre vollgesogenen Kleider waren wie Gewichte an ihren Füßen. Dann war es geschafft, sie lag auf dem Steg.
»Bist du in Ordnung?«
Ihre Zähne schlugen aufeinander, so sehr fror sie. Nur langsam gelang es ihr, die Umgebung genauer zu betrachten. Das Holz unter ihr fühlte sich vertraut an, auch die Eichen, die über ihr rauschten, erkannte sie wieder. Friedrich, der neben ihr kniete, wischte sich das Wasser aus dem Bart und sah sich um.
»Scheint so, als hätten wir Glück gehabt. Die Frage ist nur, welche Zeit haben wir jetzt?«
Seine Worte brachten Grazia zur Besinnung. Die Furcht, sie könnten weit abseits ihrer Zeit zurückgekehrt sein, ließ
sie alles andere für den Moment vergessen. »Das Grab! Schau nach, ob das Grab da ist.«
Er stand auf und zog sie auf die Füße. Vorsichtig tasteten sie sich über die morschen Planken. Sobald sie festen Boden unter sich hatten, ließ er sie los und rannte durchs Schilf. »Es ist da!«, hörte sie ihn rufen. Erleichtert atmete sie auf und stapfte schweren Schrittes über das Gras.
Die Hände in den Seiten, stand Friedrich an der Grube. Nichts hatte sich verändert. Da war die Plane, da waren die Steine, die sie beschwerten. Er stieg über die Umzäunung, schob ein paar Steine beiseite und hob die Plane an. »Sieht unverändert aus. Wäre viel Zeit vergangen, hätte man es wenigstens mit Brettern abgedeckt.«
»Bitte, Friedrich, lass es gut sein. Es war Anschars Mutter.«
Er stutzte, nickte und verteilte wieder die Plane auf dem Rand. »Du hast recht. Das hier ist leider keine archäologische Sensation. Das Grab ist siebzehn Jahre alt. Oder sind es zweiundzwanzig? Was soll ich mit diesem Wissen jetzt anfangen? Ich bin gespannt, was dein Vater dazu meint. Aber wird er das alles überhaupt glauben?«
»Weiß ich nicht.« Ihr war nach Herumjammern zumute. Sie presste die Tasche an sich, aus der es troff. »Mir ist kalt. Ich will nach Hause!«
Friedrich nahm sie an die Hand. Schlotternd und zähneklappernd hastete sie neben ihm her. Für die Insel hatte sie keinen Blick. Das, was sie sah, kam ihr fremd vor. Die Wege, die welken Rosenbüsche, die Schlossruine, selbst der Geruch. Die Sonne schien, aber das Licht war irgendwie anders. Und es war kalt, viel kälter als bei ihrem Aufbruch. Oder kam ihr das nach einem Jahr Hitze, die ihr schier den Schweiß aus allen Poren getrieben und die sie oft verwünscht hatte, nur so vor?
Sie begegneten ein paar Spaziergängern, die sie verdutzt anstarrten. Am Fährhaus stand ein Mann, der im Begriff war, sich eine
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